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Das Rätsel der Erotik

raetselKLAPPENTEXT:

Liebesbeziehungen beginnen knisternd und voller Freude aneinander. Später werden viele von ihnen lauwarm, ja kalt. Muss das sein? Wolfgang Schmidbauer geht der Frage nach und kann einige der Rätsel lösen, die hinter dieser Verwandlung stehen: Es geht darum, Lust und Bindung zu versöhnen.

»Das Reifen der Erotik wird zum Prüfstein für die Möglichkeiten eines Paares, Hindernisse gemeinsam zu überwinden und die verschiedenen Bestandteile der menschlichen Liebesbeziehungen – Zärtlichkeit, Bindung, Erotik und Sexualität – miteinander zu verbinden. Gelingt das nicht, droht der Rückzug in Spaltungsprozesse, in denen das Schwinden und Scheitern der sexuellen Begegnung dem Gegenüber zugeschrieben wird.

Gerade Personen, die sich in ihrer Jugend ein hohes Potenzial an phallisch-erobernder Erotik zugeschrieben haben, sind anfällig für die Dynamik der Spaltung. ›Junge Hure, alte Betschwester‹ sagt das Sprichwort und schreibt wieder einmal ein hysterisches Phänomen den Frauen zu, während doch die Beobachtung lehrt, dass Männer nicht einmal alt werden müssen, um sich ebenso zu verhalten.«

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Unbewusste Rituale in der Liebe

ritualeKlappentext:

Was hält Paare zusammen? Es ist die fragile Macht der »unbewussten Rituale«, die jedes Paar zu Beginn seiner Beziehung ausbildet. Allerdings können Rituale aufgekündigt werden und die gegenseitigen Bindungskräfte lassen nach. Die Methode der »Paaranalyse« kann Klarheit bringen.

Wie kann es geschehen, dass zwei Menschen, die einander innigst zugetan waren, sich plötzlich wie Feinde gegenüberstehen? Wie wachsen Bindungen zwischen Erwachsenen und wie gehen sie wieder verloren? Der bekannte Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer entwickelt zu dieser spannenden Frage das Konzept des »unbewussten Rituals«. Jede Paarbeziehung lebt von diesem individuellen Zusammenspiel, das sich zum Beispiel auf Kommunikation oder Erotik bezieht. Beide Partner gewinnen an Sicherheit und Selbstwert – solange die Rituale nicht aufgekündigt werden. In der Paaranalyse werden die »guten Rituale des Anfangs« rekonstruiert und erforscht, wie die Entwertungsspirale in Gang kam. Nicht selten ist der Prozess dann umkehrbar. Dies zeigt der Autor detailliert und nachvollziehbar an zahlreichen Fallbeispielen.

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Auf nicht natürlichen Wegen

Wer als Psychoanalytiker täglich mit den seelischen Nöten der Menschen des 21. Jahrhunderts zu tun hat, kann glatt zum Nostalgiker werden. Was die Angst vor falschen Entscheidungen angeht, war vordem das Leben wahrhaftig bequemer. Ob Krankheit oder Gesundheit, Geburt oder Tod: unsere prägenden Affekte fordern gebieterisch, schnell aus der Zone der Unsicherheit an einen sicheren Ort zu kommen. Und die von uns geschaffenen technischen Möglichkeiten stehen dem im Weg.

Dieser Entscheidungsdruck lastet auch auf Paaren, die sich ein Kind wünschen und keines bekommen. In der guten alten Zeit musste sich ein Paar mit seiner Unfruchtbarkeit abfinden; meist trug die Frau, in diesem Punkt ohnehin geübter, diese Last. Wallfahrten und Gebete, Votivgaben an die hierfür zuständige Muttergottes gaben zumindest das gute Gefühl, etwas getan zu haben. Manchmal erlebten bisher unfruchtbare Paare sogar nach einer Badekur der Frau die wundersame Wiederherstellung ihrer Fruchtbarkeit.

Aber kein Paar musste daran gehen, erst einmal genau zu klären, wer eigentlich die Ursache des Versagens sei. Keines musste, wenn erst diese Kränkung verarbeitet war, angesichts des abgestuften Programms der modernen Fertilitätsmedizin diskutieren und sich einigen, wie weit sie gehen, wie oft sie einzelne Schritte bei Misserfolg wiederholen wollten. Weder Mann noch Frau mussten sich entscheiden, ihre Erotik Dritten aufzublättern und sich deren Vorschriften zu unterwerfen. Es fehlte schlicht das Angebot, sich für das gemeinsame Kind Prozeduren auszusetzen, die jeder Vorstellung von spontaner Liebe und Romantik derart krass widersprechen.

Die Äußerungen von Sibylle Lewitscharoff sind insofern lehrreich, als sie das poetische Prinzip der Erotik gegen die gewiss ältere und radikalere Macht der Fruchtbarkeit verteidigen. Der harte Ton, den die Autorin in ihrer Dresdner Rede angeschlagen hat, spricht für die Macht der Affekte, die hier eine Rolle spielen. Von Anfang bis zum Ende sieht sie abartige Wege, angefangen bei der Vorstellung, Samen durch Masturbation zu gewinnen, bis hin zu den Halbwesen die so entstehen.

Freuds Dilemma (ebook)

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In diesem bei Rowohlt 1999 erstmals erschienenem Buch geht es um die Spannung zwischen wissenschaftlicher Fundierung und künstlerischer Praxis der Psychoanalyse, die an einer kunsthistorischen Fehlleistung Freuds aufgezeigt wird.

Dieser hat den Gegensatz der Skulptur, die durch Wegnehmen arbeitet, gegenüber Plastik und Malerei, die etwas hinzufügen, nicht – wie es richtige wäre – mit Michelangelo, sondern mit Leonardo da Vinci verknüpft. Es lässt sich nachweisen, dass ein mit der Metapher des “Wegnehmens” (der Psychoanalyse) und “Hinzufügens” (der Suggestion und stützenden Behandlung) formulierter Gegensatz keineswegs so klar ist, wie ihn Freud mit rhetorischen Kunstgriffen zu formulieren suchte.

Erst wenn wir diesen Schematismus überwinden, können wir uns den Eigentümlichkeiten der Psychotherapie nähern und erkennen, dass ihre Grundlage nicht angewandte Wissenschaft, sondern kreative Professionalität ist.

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Die Angst vor der Liebe (ebook)

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Wolfgang Schmidbauer berichtet in diesem Buch von den Ursachen der Angst vor der Liebe und dem unterschiedlichen Umgang von Männern und Frauen mit einem Mangel an Nähe.

«Ich habe versucht, in diesem Buch möglichst genau Einzelschicksale zu beschreiben. Sie sollen dazu dienen, ein wahrheitsgemäßes Bild psychoanalytischer Arbeit zu vermitteln, sowie Leserinnen und Leser ermutigen, ihr persönliches Schicksal und ihre gegenwärtige Situation zugleich liebevoll und schonungslos zu betrachten – ohne falsche Hoffnungen, aber auch ohne undifferenzierte Schuldgefühle, ohne die Selbstvorwürfe dessen, der sich anklagt, durch ein Versehen die Abzweigung zum Paradies übersehen und sich in der Wüste verirrt zu haben.»

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Angst und Grausamkeit

Ein Kind, das Fliegen Beine auszupft oder Ameisen mit dem Brennglas verdampft, macht Grausamkeit zum Spiel, ähnlich der Katze, die eine verwundete Maus entkommen lässt und erneut die Krallen in sie schlägt. Die großen Grausamen der Geschichte wirken dem gegenüber weder neugierig noch spielerisch, sondern freudlos und von dem Bedürfnis gehetzt, die Welt unter Kontrolle zu bringen. Das Kind und die Katze fürchten nicht, dass die Fliege oder die Maus ihnen schaden werden, wenn sie ihnen nicht zuvorkommen.

Die Tyrannen der Geschichte waren von der Phantasie geprägt, anderen antun zu müssen, was diese sonst ihnen antun würden. Die kindliche Grausamkeit ist mit Weltvertrauen vereinbar; die tyrannische nicht. Die Angst vor Vergeltung erzwingt Misstrauen und stete Wachsamkeit.

Wespen lähmen eine Raupe durch einen Stich in ein Ganglion und legen dann ihre Eier in sie ab, so dass ihre Larven den noch lebenden Wirt verzehren. Hyänen gelten als grausam, weil sie einer Gazelle die Bauchdecke aufreißen und die Eingeweide verschlingen, während ihre Beute noch lebt. Angesichts solcher Erscheinungen fällt manchmal der Satz von der Grausamkeit der Natur. Ein Missverständnis, das auf einer Ausweitung der menschlichen Empathie beruht. In der biologischen Evolution geht es um Zweckmäßigkeit, um das Funktionieren der Organismen angesichts der Aufgabe, die eigenen Gene weiter zu geben. Empathie ist da eine sehr späte Errungenschaft. Wie die Tyrannen zeigen keine, auf die wir uns verlassen können.

Die Beobachtung der Natur lehrt uns ebenso wie die Selbstbeobachtung, dass der natürlichen Auslese das Wohlbefinden des Individuums ziemlich gleichgültig ist. Das lässt an dem gütigen Schöpfergott zweifeln und hat den Volksglauben gezwungen, ihm einen Teufel gegenüberzustellen, der Stechmücken, Wespen, Schnupfenerreger und jene Unzahl weiterer Übel erschaffen hat, die uns plagen.

Eine zusätzliche Plage entsteht dadurch, dass wir manchen Übeln entgehen können, anderen aber nicht. Wenn ich auf das dritte Stück Sahnetorte verzichte, wird mir nachher nicht speiübel. Wenn ich nicht rauche, sinkt die Gefahr von Lungenkrebs. Aber was habe ich versäumt, was habe ich falsch gemacht, wenn ich trotz meiner Vorsicht erkranke?

Die Scholastiker haben sich gefragt, ob es im Paradies schon Stechmücken und Giftschlangen gab. Wir können hinzusetzen, dass die hebräische Mythologie eine tiefe Wahrheit offenbart, indem sie die Unbekömmlichkeit der Erkenntnis betont. Es war ein weiser Rat, die Frucht der Erkenntnis nicht zu essen. Schon damals wussten die Dichter, dass eine paradiesische Existenz sich nicht mit zu viel Wissen verträgt. Einsicht schafft innere Gefahren, auf die eine im Kampf gegen äußere Feinde entwickelte Intelligenz keine Antworten findet.

Dr. Schreck und Dr. Glück

An einem Dienstag im Februar 2014 wurde ein niederländischer Facharzt für Neurologie wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Er habe Jahre lang bei vielen Patienten willkürlich schwere Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson diagnostiziert, befand das Gericht. Er habe sie mit Medikamenten versorgt, die sie nicht brauchten und schmerzhafte diagnostische Eingriffe (wie Punktionen des Rückenmarks) durchgeführt, die nicht angezeigt waren. Eine Patientin beging nach einer falschen Diagnose Suizid, eine andere wurde durch eine fehlerhafte Punktion gelähmt und starb kurze Zeit danach.

Trotz unwiderleglicher Beweise für seine falschen Schreckensdiagnosen behauptete Ernst J.S. durchgängig, er habe sich nichts vorzuwerfen und nach bestem Gewissen gearbeitet. Was in dem Mann vorging, der den Prozess mit unbewegter Miene verfolgte, ließ sich nicht aufklären. Zu vermuten ist, dass er sich selbst ebenso belogen hat wie das Gericht und seine Patienten.

Es ist eine alte Weisheit, dass Macht stets die Verführung mit sich bringt, sie zu missbrauchen. Das gilt auch für die Macht der medizinischen Diagnose über die Psyche von Arzt und Patient. Der verurteilte Neurologe war sozusagen süchtig nach einem Modell, ärztliche Macht zu missbrauchen, die im Alltag meist viel harmloser, sozusagen provisorischer auftritt, in ihren seelischen Folgen aber ebenfalls große Belastungen erzeugt.

Ein Arzt kann Dr. med sein, Dr. Glück und Dr. Schreck. Dr. med erledigt seine Arbeit, fügt niemandem überflüssige Schmerzen zu, achtet stets darauf, dass der Nutzen für den Patienten im Vordergrund steht und sein eigenes Gewinnstreben und Geltungsbedürfnis nachrangig bleiben. Dr. Glück gleicht meinem Ex-Zahnarzt, der mir, auf Zahnfleischbluten hingewiesen, tröstend sagte, ganz normal, bei anderen sei das viel schlimmer – bis ich von einem Dr. med erfuhr, dass ich an einer heftigen Parodontose litt. Über Dr. Schreck habe ich oben geredet; derart krasse Fälle sind aber nur die Spitze des Eisbergs.

Eine Schwangere kommt verstört vom Frauenarzt. Dieser hat bei der Ultraschalluntersuchung einen Schatten im Gesicht des Ungeborenen entdeckt. Es könnte, sagt er der Mutter, eine Missbildung sein. Er schlägt eine Spezialuntersuchung mit einem höher auflösenden Gerät vor. Die werdende Mutter ist erschüttert, verängstigt, verbringt schlaflose Nächte, grübelt über Abtreibung, über die Ehekrise durch ein behindertes Kind.

Notizen zum letzten Drittel

Das letzte Lebensdrittel beginnt mit 60 Jahren. Wer um diese Zeit noch gesund ist und ein wenig Glück hat, kann die 90 erreichen, aber jedem nachdenklichen Menschen ist auch klar, dass er nicht nur nicht mehr jünger wird – das sagen wir ja schon mit dreißig oder vierzig Jahren – sondern auch viel von den Sicherheiten und Fertigkeiten verlieren wird, die ihm lange Jahre selbstverständlich waren.

Die spontane Reaktion auf diese Verluste ist es, sie zu leugnen. Der schöne Satz von der Jugend, die Trunkenheit ohne Wein sei, wird umgedreht: Wir trinken uns jung, wir dürfen dann endlich wieder kindisch sein, Grenzen leugnen, unserem Organismus Leistungen abverlangen, die er früher gerade noch bewältigt hat. Besonders gefährlich kann das im Sport und im Straßenverkehr werden.

Der Schifahrer, der sich auf der Hütte mit dem beschönigend „Jägertee“ genannten Rumverschnitt labt, ist hochgradig unfallgefährdet, wenn er es dann auf der Piste den Jüngeren noch einmal zeigen will. Ähnlich kann der zwanzigjährige Autofahrer Situationen meistern, denen der fünfzigjährige besser ausweichen sollte. Dennoch glauben überall auf der Welt Mütter und Väter an der Schwelle zum letzten Drittel, dass sie es sind, die ihre längst erwachsenen Kinder mit guten Ratschlägen gegen Gefahren wappnen müssen, die ihnen längst dichter auf den Leib rücken.

Das angenehmste Ereignis, das im letzten Drittel auf uns wartet, sind die Enkelkinder. Es ist kein Zufall, dass Sigmund Freud seine tiefsinnigsten Beobachtungen über das kindliche Spiel nicht an seinen Kindern, sondern an seinen Enkeln gewonnen hat. Die eigenen Kinder sind zuerst einmal eine Aufgabe. Eltern tragen die Last der Verantwortung, sie müssen sie versorgen, erziehen, planen, wie sie Familienleben und Karriere unter einen Hut bringen. Großeltern hingegen können in aller Ruhe beobachten, was für ein Wunder die Menschwerdung ist.

Während die Menschen im letzten Drittel lernen müssen, wie wichtig es ist, loszulassen und animalische Signale wie Schmerz und Erschöpfung richtig zu deuten, ist es für das Kleinkind in seiner Welteroberung völlig selbstverständlich und weitgehend unschädlich, sich zu überschätzen und zu verausgaben. Der Siebzigjährige wird, wenn er noch Sport treibt, sehr sorgfältig darauf achten, dass die Kufen seiner Schlittschuhe nicht schneller sind als sein Hinterteil; für den Vierjährigen ist ein Tag auf dem Eis langweilig, an dem er nicht vierzigmal hingefallen ist.

Das Kind leidet unter seinem Mangel an Kräften. Die Belastbarkeit von Bändern, Sehnen und Gelenken ist ihm meist völlig selbstverständlich. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich bei meiner ersten Lektüre der Heldensagen von Herkules war oder von dem magischen Ring, der dem Zwergenkönig Laurin in der Dietrichssage Zwölfmännerstärke verleiht.

Mein Großonkel und Firmpate, ein erfahrener Forstmann und Gebirgsjäger, erklärte mir und meinem Bruder feierlich, es sei leichter bergauf zu gehen als bergab. Wir sollten Gebirgswege nicht hinunterlaufen und von Stein zu Stein springen! Ich habe ihn damals bei aller Liebe für verrückt gehalten; heute weiß ich, dass er Recht hatte – für sich, aber ganz und gar nicht für Zehnjährige.

Die Zukunft hat viele Illusionen.

Selten ist in einer Schrift gelassener und gleichzeitig rücksichtsloser über Religion diskutiert worden als in Sigmund Freuds 1927 erschienener Schrift „Die Zukunft einer Illusion“. Verglichen mit dem wenige Jahre später erschienen Essay über „Das Unbehagen in der Kultur“ wirkt Sigmund Freuds religionskritischer Essay optimistisch. Hier steht die berühmt gewordene Formulierung: „Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und Recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat.“

Über weite Strecken hin führt Freud einen Dialog; er versucht, zweckmäßige Gründe für die Religion zu finden und diese durch Vernunftgründe zu entkräften. Seine These ist, dass die Religion als Menschheitsphänomen den Neurosen vergleichbar ist. Sie tritt an jenen Stellen der Entwicklung auf, an denen eine im Kindheitsstadium verharrende Menschheit unbrauchbare Triebwünsche nicht durch Vernunft beherrschen kann, sondern diese angstvoll verdrängen muß. Neurotische Symptome wie religiöse Rituale, die magischen Handlungen Zwangskranker gleichen, entstehen dann, wenn solche Unterdrückungsakte nicht mehr ausreichen. „Die Religion“, stellt Freud fest, „wäre die allgemein menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammte sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung. Nach dieser Auffassung wäre vorauszusehen, dass sich die Abwendung von der Religion mit der schicksalshaften Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorgangs vollziehen muß, und dass wir uns gerade jetzt mitten in dieser Entwicklungsphase befinden.“ Freud mußte die Veröffentlichung gegen den Widerspruch seiner politisch denkenden Mitstreiter in der psychoanalytischen Bewegung durchsetzen. Diese sahen die Etablierung der Analyse durch derlei Kulturkritik gefährdet, während ihr Gründer fürchtete, dass ohne klare Worte die psychotherapeutische Hilfe als weltliche Seelsorge von den Konfessionen vereinnahmt und ihrer Eigenständigkeit beraubt werden könnte.

Wenn wir die Situation heute betrachten, wird uns klar, dass Freud irrte, als er eine Entwicklung voraussah, in der die Menschheit parallel zum Fortschritt der Wissenschaft der Religion entwächst. Freud ist in „Die Zukunft einer Illusion“ ganz Aufklärer; er setzt auf den Sieg der Vernunft über das Irrationale und wird dadurch seinen eigenen Entdeckungen über die Macht des Irrationalen über die Vernunft untreu. Diese Untreue rächt sich; Freud muss sich von seinem Freund Romain Rolland sagen lassen, dass er mit der Religion längst nicht so sorgfältig umgegangen ist wie mit den Neurosen. Er hat die religiösen Gefühle und Phantasien nicht in den Menschen, an den Orten ihrer Entstehung, und nicht einmal in seinem eigenen Bewusstsein erforscht. Er hat sie einem Vergleich unterworfen, in ein Schema gezwungen, das nicht aus der analytischen Arbeit selbst kam, sondern auf der Übertragung analytischer Modelle und zum Teil sogar psychiatrischer Diagnosen (wie „Zwangsneurose“) beruhte.

Mitleid, Beileid, Mehrleid

In manchen Traueranzeigen findet sich ein kleiner Satz: „Von Beileidsbezeugungen am Grab bitten wir abzusehen.“ Manche der Teilnehmer an dem Abschiedsritual werden aufatmen; andere fühlen sich bevormundet. Die Angehörigen des Verstorbenen sagen, dass sie in Ruhe gelassen werden wollen. Ist das eine Gegenströmung in einem Ritual, in dem Menschen zusammen kommen, um sich von einem der ihren zu verabschieden und jene zu trösten, welche dieser Verlust am schmerzlichsten trifft? Wohl eher ein Ausdruck der Unterschiedlichkeit und Unberechenbarkeit, die in einer Kultur regieren, die das Verhalten der Personen nicht mehr durch allgemeine Normen reguliert.

Leben und leben lassen, jeden nach seiner Fasson, ist im Alltag ein angenehmes Prinzip, das wir um keinen Preis gegen die Zwänge einer traditionellen Welt tauschen wollen. Aber in Grenzsituationen zeigt sich eine Schwäche dieses Modells. Wenn früher ein enger Blutsverwandter starb, zerrissen die Angehörigen ihre Kleider oder wechselten deren Farbe. Jeder erkannte sofort: diese Person ist aus ihrer Alltagsnormalität gefallen.

Heute verlässt ein Angestellter das Büro und trifft eine Kollegin auf dem Flur. Sie wünscht ihm einen schönen Feierabend. Entweder er verstellt sich, oder sie muss sich über sein Verstummen empören. Sie ahnt nicht, dass er in das Hospiz geht, in dem seine Frau im Sterben liegt.

Seit die Verarbeitung von Schmerz und Trauer individuell und unsichtbar geworden ist, kann Anteilnahme stören. Ich habe mich mühsam genug damit abgefunden, dass mein schwer krankes Kind gestorben ist. Ich weine nicht mehr, ich kann das tragische Geschehen ertragen und mich wieder in meinem Leben zurecht finden. Sobald ich aber jemandem davon erzähle, wird es schwierig.

Unsere Gefühle sind nicht synchron wie ein gemeinsames Trauerritual – eine Woche klagen, ein Jahr schwarze Kleider. Worauf ich bereits gefasst reagiere, wird für den, der zum ersten Mal davon erfährt, zum aufwühlenden Ereignis. Am Ende ertappe ich mich verwirrt dabei, dass ich eine weinende Person trösten möchte, die nicht ihren, sondern meinen Verlust beklagt.

Verluste und Verletzungen zu verarbeiten, ist eine schwierige, schöpferische Leistung der Psyche. Andere Menschen können solche kreativen Prozesse unterstützen oder auch stören. Da es heute keine allgemein gültigen Rituale mehr gibt, können wir uns nur an Einfühlung orientieren. Diese entwickelt sich unter entspannten, zu genauer (Selbst)Beobachtung geeigneten Seelenzuständen am besten. Und gerade dazu sind Menschen oft nicht in der Lage, wenn sie der Wucht eines traumatischen Ereignisses ausgesetzt sind.

So entspricht der Satz über die Beileidsbezeugungen einem Spruch, den Picasso gerne zitierte, wenn geschwätzige Besucher in sein Atelier kamen: „Das Gespräch mit dem Chauffeur ist während der Fahrt verboten!“ Ehe ich versuche, jemandem klar zu machen, wie schrecklich ich sein Leiden finde, muss ich mir über meine eigenen Bedürfnisse ebenso klar werden wie über seine Aufnahmebereitschaft und seine Position in dem Prozess der Trauer. Andernfalls bin ich so lästig wie der teilnehmende Passant, der dem Rollstuhlfahrer seine Bewunderung kundtut, wie gelassen dieser sein schweres Schicksal erträgt – „ich könnte mit einer solchen Behinderung nicht leben!“