Vortrag
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Die Zukunft hat viele Illusionen.

Warum sich Freud irrte, als er den Sieg der Analyse über die religiöse Illusion ankündigte

Können wir diesen Prozess als Re-Illusionierung deuten, als Rückkehr zu eben dem, das Freud dem unermüdlichen Tropfen des Wassers der Vernunft auf den Stein der menschlichen Dummheit schon zum Opfer fallen sah? Es ist höchst unwahrscheinlich, dass wir zu einem Zustand zurückfinden, der schon einmal war. Die Phänomene sind neu, die Illusion, mit der sich Freud auseinandersetzte, wirkt übersichtlich, geschlossen und – so paradox es klingt – rational, gemessen an den hektischen Bewegungen der Gegenwart, in der Modekonzerne eigene Abteilungen damit beschäftigen, Trends zu wittern, denn was heute in ist, wird morgen schon out sein.

Die religiösen Fundamentalismen und Sekten sind so wenig eine Rückkehr zu den Wurzeln des tradierten Glaubens, wie Christbaum oder Muttertag ein germanischer Brauch. Sie wollen es uns nur glauben machen, ähnlich wie Mitteleuropäer zum powhow eines Indianerclubs nur in handgenähter Lederkleidung und mit echten Adlerfedern zugelassen werden, während die Orginalindianer ihre Zeremonien längst in zerissenen Jeans und mit Rasseln aus Coladosen absolvieren.

Die Religionskritik Freuds setzt an die Stelle der zerstrittenen und illusionshungrigen Kirchen und Konfessionen das Bekenntnis zum Fortschritt der ganzen Menschheit. Freud vertraute darauf, dass die Naturwissenschaft einen humanistischen Materialismus fundieren kann. Aber er hat die Rationalität der Technik ebenso überschätzt wie die Macht der Aufklärung. Was heute vor allem deutlich wird, ist die Tatsache, dass der Fortschrittsglaube in seinen Versprechungen, die Utopie der Humanität zu realisieren, scheitern muss, wenn er die Last der von ihm selbst geschaffenen Probleme der Zukunft aufbürdet. Solange die technischen Fortschritte ihre eigenen Risiken nicht kontrollieren können, wecken sie eher Zweifel als Hoffnungen an der Durchsetzungskraft der leisen Stimme des Intellekts. Die Menschen suchen dann ihren Glauben lieber überall sonst als in der Wissenschaft, die ihnen allein schon durch ihre Komplexizität und schwere Durchschaubarkeit Angst einflösst.
Es genügt, sich einige Abende in Talkshows zu zappen oder die Leitartikel der Tagespresse zu verfolgen, um zu erkennen, wie wenig Gehör heute Illusionskritik findet. Wer Urteile aufschieben, Ambivalenzen darstellen und auf Differenzierungen nicht verzichten will, hat wenig Chancen, den Beifall auf seine Seite zu bekommen.

Die Fähigkeiten der Individuen, weltanschauliche Skepsis und begrenztes Wissen zu ertragen, sind wenig verlässlich. Falsche Sicherheit wird lieber gewählt als Zweifel und nüchterner Blick. Nicht die persönliche Wahrheitssuche, auf deren revolutionären Druck Freud setzte, bestimmt das Verhalten von Mehrheiten. Es ist eher die Anlehnung an andere Menschen – unter anderem in radikalen oder fundamentalistischen Gruppen – oder aber die Verschmelzung mit Medien- und Warenbotschaften in den Konsumgesellschaften. Die Warenwelt ist heute die gültigste Form des Religionsersatzes. Der Computer- oder Autofreak scheint neben dem Sportbegeisterten gegenwärtig der letzte Mensch, der täglich mit Fortschritten und konstruktiven Lösungen beschäftigt ist.

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