Vortrag
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Die Zukunft hat viele Illusionen.

Warum sich Freud irrte, als er den Sieg der Analyse über die religiöse Illusion ankündigte

Freud hat während einer seiner Umbaumaßnahmen an der psychoanalytischen Theorie gesagt, dass unsere psychologischen Begriffe einer Art Verschleiß unterliegen. Wir müssen sie periodisch erneuern, um unseren Beobachtungen gerecht zu werden. Das ist ein interessanter Gedanke, der die Nähe der Psychologie zur Kunst und zur Religion bezeugt. Hier kennen wir den Verschleiß des Vertrauten, die Sehnsucht nach dem Neuen schon länger.

Jede Religion scheint zwischen den Polen der Identifizierung und der Idealisierung zu schwingen. In der Identifizierung nähern wir uns dem Gott, verschmelzen mit ihm, nivellieren den Unterschied zwischen ihm und dem eigenen Ich. Hier ist Religion lebendig, persönlich, ganz dicht am Leben, an den Emotionen, es riecht nach Schweiß und Blut, es wird getanzt und getrommelt.
In der Idealisierung wird Gott der ganz Andere, der weit entfernt und erhaben ist, dessen strenge Ordnung wir am besten in stummer Andacht, abgemessenen Schritts, vielleicht begleitet von keuscher Saitenmusik oder diszipliniert-vielstimmigem Gesang feiern. Nietzsche hat das Dionysische dem Apollinischen gegenüber gestellt; andere sprechen von heißen und kalten Phasen der Religiosität. Vielfach sehnen wir uns, wenn das Pendel zu stark nach einer Seite wandert, nach dem Gegenteils.

Freuds Überzeugung, dass die Gärung des Mostes der Religion in dem reinen Wein der Wissenschaft zum Stillstand kommt, scheint angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen selbst eine Illusion. Die Wissenschaft hat viel Macht in der modernen Welt entfaltet, aber sie regiert sie nicht, sondern sie dient Machtinteressen außer ihr. Die Wissenschaft kann einen ethischen Diskurs nicht ersetzen.
Die Geschichte „unseres“ Christentums im Abendland ist lang, verwickelt und reich an Abscheulichkeiten von der Inquisition bis zum Pakt der Christen mit den Faschisten, die sich angesichts einer ethisch derart anspruchsvollen Religion kaum ausblenden lassen. Wer aber diese Defekte zum Anlass nimmt, das Haus Europas von dieser Tradition zu reinigen, wird um eine genauere Überlegung nicht herumkommen, ob dieses gereinigte Haus nicht alsbald von schlimmeren Übeln besetzt wird. Im Christentum haben wir es gelernt, Glauben und Aberglauben, naive und kritische Gotteslehre zu trennen. Wer den Schamanenkurs besucht, der indischen Sekte beitritt oder einem tibetanischen Mönch Gehorsam schwört, begeistert sich oft für Inhalte, die keinen Deut gültiger oder tiefer sind als das, was er – käme es aus der eigenen Tradition – als Aberglauben abweisen würde.

Die Entwicklung der Eventkultur seit dem Ende des kalten Krieges erfüllt Abwehrfunktionen, von denen in der klassischen psychoanalytischen Kulturkritik nicht die Rede sein konnte. Freud stellte sich technische „Prothesen“ vor, wie die Eisenbahn, das Flugzeug, das Telefon. Aber emotionale Prothesen, wie sie die Kulturindustrie liefert, haben sich erst nach seinem Tod zu ihrer heutigen Erlebnisdominanz entwickelt.

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