Auszug:
Da Eis nur ein wenig leichter ist als Wasser, sehen wir neun Zehntel eines Eisberges nicht. Die Spitze des Eisbergs ist ein Bild für die erdrückende Übermacht des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren. Sie ist ein Hinweis auf die trügerischen Gewissheiten unserer Wahrnehmung, auf die Illusion, wir hätten mit unserem Blick auf das treibende weiße Gebilde das Wesentliche bereits erfasst und könnten nun daran gehen, ihm auszuweichen.
Die Spitze des Eisberges ist auch eine Metapher für unsere Psyche: nur ein Bruchteil dessen, was sich in ihr abspielt, wird uns bewusst. Wir wissen wenig, ahnen so manches, müssen uns öfter, als es uns lieb ist, mit dem Wissen um unser Nichtwissen zufrieden geben, das uns seit Sokrates mehr befriedigt als die fromme Illusion.
Die Ereignisse am 11.September 2001 sind für mich nach und nach ebenfalls zur Spitze einer viel umfassenderen und auch bedrohlicheren Erscheinung geworden. Ich nenne sie den explosiven Narzissmus. Unter Bedingungen, die sicher nicht leicht zu erforschen sind, die im Dunkeln liegen und deren Formen mit ihrer Umgebung verschmelzen, kann der Mensch explodieren. Er verliert jede Struktur, wird unberechenbar, vernichtet andere oder sich selbst. (…)
Veröffentlicht am 24. April 2017
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