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Das gebrochene Schweigen

Als Psychoanalytiker bin ich Mitglied eines Berufs und in gewisser Sicht auch einer Bewegung, die dem Schweigen, besonders dem Schweigen in sexuellen Dingen kritisch gegenüber steht. Freud hat von der heilsamen Wirkung der talking cure geschrieben und seine Zeitgenossen herb kritisiert, weil sie die Realität der Erotik und die Gefahren des sexuellen Missbrauchs verleugneten. In einer seiner Vorlesungen an der Clark-Universität („Über Psychoanalyse“, Nr.4) sagte er: Die Menschen sind überhaupt nicht aufrichtig in sexuellen Dingen. Sie zeigen ihre Sexualität nicht frei, sondern tragen eine dicke Oberkleidung aus — Lügengewebe zu ihrer Verhüllung, als ob es schlechtes Wetter gäbe in der Welt der Sexualität. Und sie haben nicht unrecht, Sonne und Wind sind in unserer Kulturwelt der sexuellen Betätigung wirklich nicht günstig; eigentlich kann niemand von uns seine Erotik frei den anderen enthüllen.

Das gilt ganz besonders für die inzwischen aufgedeckten Fälle von sexuell getöntem Machtmissbrauch in der Welt der Medien. Erotik wurde in den beschrieben Szenen nicht kommuniziert und spielerisch in beiderseitigem Einverständnis entwickelt, sondern als phallische Geste aufgezwungen. Man kann verstehen, dass viele Opfer erst einmal zu erschrocken sind, um sich zu wehren. So lassen sie den Tätern Raum für ihren primitiven Exhibitionismus – und wehren sich nicht gegen das gemeinsame Lügengewebe. In den aktuellen #metoo und #wetoo-Bewegungen wird nun das bisherige Schweigen gebrochen.
Diese Rede vom gebrochenen Schweigen scheint mir nun aber ebenfalls weit entfernt von einem offenen, empathischen Umgang mit sexuellen Fragen. Sie nimmt manchmal so überhand, dass ich auf den bizarren Gedanken komme, ein gebrochenes Schweigen in die Notaufnahme zu bringen und den Bruch mit Schiene oder Gipsbinde zu schützen, damit er möglichst schnell und komplikationslos heilt. Woher nur kommt diese latent gewalttätige Formulierung – Schweigen zu brechen, wie ein Knochen bricht, wie Vertrauen bricht, wie ein Mensch durch einen Schicksalsschlag zerbricht?
Ist in solchen Fällen das Sprechen gegen einen Widerstand, einen Widerwillen erzwungen? Wer mit sexuell verletzten Menschen zu tun hat, begegnet nicht selten dem Wunsch, ein gebrochenes Schweigen wieder heilen zu können. Sie haben in einer Arbeitsgruppe, im Bekanntenkreis, unter Freunden von Verletzungen, von Übergriffen, von Missbrauch erzählt. Aber die so preisgegebenen Inhalte wurden nicht einfühlend und taktvoll aufgenommen. Das Opfer fühlt sich nicht unterstützt, sondern diskriminiert.
Wir wissen im Einzelfall nicht, ob es klüger ist, über Verletzungen des Selbstgefühls nur in Situationen der Schweigepflicht (wie die Arztpraxis, die Psychotherapie) oder aber öffentlich zu sprechen. Wir können nur versuchen, die Fragestellung etwas zu vertiefen. Falsch sind gewiss Polarisierungen: Reden ist gut, Schweigen schlecht. Reden schafft Übel aus der Welt, Schweigen konserviert sie. Reden dient den Opfern, Schweigen schützt die Täter.
Warum betonen, dass ich das Schweigen breche? Es ist eine Inszenierung, die Spannung erzeugt und dem Zuhörer vermittelt, dass er jetzt etwas ganz Besonderes zu hören bekommt, dass ein Geheimnis verraten, eine Verschwörung („des Schweigens“) aufgedeckt wird. Leider ist es ein modernes Märchen, dass der Bruch seines Schweigens per se einen Menschen persönlich wie sozial weiterbringt. Manchmal stimmt eher das Gegenteil. Dann entspricht die Situation bis in die riskanten und schmerzlichen Einzelheiten dem Knochenbruch. Die Bruchstellen können sich durch unachtsamen Umgang infizieren, die Folgen dann eine Heilung verzögern und den Organismus aus dem Gleichgewicht bringen.
Bisher in ihrem Schweigen Geborgene warten vergeblich darauf, dass sich Erleichterung und geistige Befreiung einstellen. Sie haben aus Gründen geschwiegen, die vielleicht nicht gut waren, aber doch ganz und gar ihnen gehörten. Jetzt werden sie in eine Öffentlichkeit gezerrt, deren Akteure nicht ihr Wohl im Auge haben, sondern die eigene Geltung und womöglich auch die klammheimliche Freude daran, sich selbst in der Entwertung dessen aufzuwerten, was durch den Bruch öffentlich geworden ist.
Die Mediengesellschaft ist zugleich schamloser und prüder geworden. Auf der einen Seite grassiert Pornographie in allen Variationen, auf der anderen Seite beschädigt bereits der Verdacht sexueller Verfehlungen Ruf und Karriere. Die dicke Schicht von Lügengewebe ist an manchen Stellen undurchdringlicher geworden, an anderen durchsichtiger. Wenn Freud gehofft hat, die Psychoanalyse würde dazu führen, dass eine befreite erotische Kultur auf dieses Lügengewebe verzichten kann, hat er sich geirrt.

Erschienen im Neuen Deutschland in der Kolumne „Psychologisch gesehen“ am 18/19. November 2017

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