Aufsaetze
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Verkehrsunfall im Jemen

Im Hotel, in unseren Zimmern gegenüber dem Frühstücksraum, wurde uns erst bewusst, wie zerschlagen wir waren. In dem Trubel der Notaufnahme, der den ganzen Tag um uns brandete, in der Sorge um die Schwerverletzen waren unsere eigenen Blutergüsse und Zerrungen untergegangen. Am schlimmsten war R. mit seinen Rippenprellungen dran: Als er sich aufs Bett legen wollte, wurde er vor Schmerzen fast ohnmächtig und konnte sich kaum wieder aufrichten. Wir halfen einander, so gut wir konnten, schluckten Schmerzmittel und ein wenig Valium aus der Reiseapotheke, verbrachten ein unruhige Nacht. Im Morgengrauen sollten wir zurück zur Klinik und das Warten auf den Hubschrauber fortsetzen. Würde er kommen? Würde er Platz bieten für uns alle und das Gepäck?
Es wäre klug gewesen, das Valium grosszügiger zu dosieren und auf die Rettungsmaschinerie zu vertrauen, die Y., Botschaft und Reiseunternehmen in Gang gesetzt hatten. Die Sorgen und Bedenken, mit denen wir uns wach hielten, waren alle vergeudete Energie: Szenarien von einem zum Gefängnis geschrumpften Hotelzimmer, abgeschnitten unter Menschen fremder Sprache, denen wir lästig waren, von einem Transport im Jeep, stets in Sorge, ob ihn U. überstehen würde, von einer Trennung unserer kleinen Gruppe, weil nur die Schwerverletzten in den Hubschrauber passten. Inschallah, Kismet, Karma – das Schicksal annehmen, wie es kommt. Ich weiss nicht, ob die östlichen Völker das wirklich besser können; dass sie viele Begriffe für diese Tugend haben, heisst schliesslich auch, dass sie vielleicht nicht viel weniger benannt und gefordert werden muss als die Geduld mit Fatum, Parze und Moira.
Als wir aufstanden, war das Frühstück schon bereit: Heisses Wasser, Teebeutel, eine Dose Kondensmilch, Fladenbrot, Joghurt, Schmelzkäse, Marmelade. Der Arm schmerzte, weil ich versucht hatte, zu duschen, er vertrug keine Bewegung zuviel. Ich ass, wie auch Verbannte essen. In der Halle sassen einige Männer von Cameleers; einen davon kannte ich bereits. Sie waren gekommen, um das defekte Auto zu holen und wollten uns jetzt zum Krankenhaus bringen.
Dort fuhren wir im Morgengrauen an langen Schlangen von verschleierten Frauen und Männern vorbei, die ihre rotgemusterten Tücher gegen die Morgenkühle um Kopf und Gesicht geschlagen hatten. Wieder öffneten sich die Gittertore. Wir suchten U. Die suite erwies sich als ein winziges Zimmer ganz am Ende der Männerstation im Nordflügel mit einem leeren Sofa und U. in einem Bett, grau im Gesicht, aber ansprechbar und transportfähig. Es war ein sonniger Morgen, der 8. Oktober 2002, noch angenehm kühl. Der lange Flur öffnete sich auf einen baumbestandenen Hof; dort stand eine aus Latten gezimmerte Bank; hier sollten wir warten.
U.s Kreislauf sei jetzt stabil, erklärte der Chefarzt, der Transport mit dem Helikopter unbedenklich. Ehe aber über den Flug nach Frankfurt entschieden werde, müsse sie in Sana’a noch einmal untersucht werden; dort erwarte uns eine Ambulanz, die sie ins German Hospital bringe. Wir erwarteten, dass der Hubschrauber in der Nähe auf freiem Feld landen würde und deuteten ein lautes Motorengeräusch als seine Ankunft. Als aber nichts geschah und niemand sich rührte, ging ich in Richtung des Lärms durch den Krankenhausgarten, bis mich ein Zaun stoppte, hinter dem ein Dieselmotor lärmte. Es war das Stromaggregat der Klink.
Schliesslich kam der Direktor des AlSalam und bat uns zur Notaufnahme. Hier stand ein Ambulanzwagen, in dem die beiden Schwerverletzten zum Hubschrauberlandeplatz im örtlichen Militärstützpunkt gebracht werden sollten. Wie immer erleichterte mich die Bewegung. Es geschah etwas; an den Hubschrauber wollte ich erst glauben, wenn ich ihn sah.

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