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Freuds Utopie und die Aktualität der Psychoanalyse

Die „alten und dreckigen Götter“ seiner Sammlung bewachten ein Leben, das in äusserst regelmässigen Bahnen verlief. Freuds Leidenschaft, die Rätsel des Triebes, des Traumes, der Wahnbildungen Nervenkranker zu erforschen, hängt eng mit dem Bestreben zusammen, ein möglichst hohes Maß an Einblick in eben jene Aspekte des Lebens zu gewinnen, die sich menschlicher Kontrolle entziehen. Freuds Sammelleidenschaft für Kleinplastiken fügt sich in diese Haltung. Sie sind tastbar, sichtbar, ideale Übergangsobjekte im Sinn von Donald Winnicott.
Freud hatte Grosses im Sinn. Auf dem Umweg über die Wissenschaft verfolgte er politische Ziele. Er wollte das Programm des aufgeklärten Liberalismus umsetzen und eine Gesellschaft schaffen, in der allein die wissenschaftliche Rationalität herrscht und Menschen, die von etwas nichts wissen, sich bereitwillig einem Wissenderen unterwerfen.
In der psychoanalytischen Bewegung versuchte Freud, diese Gesellschaft im Kleinen vorwegzunehmen. Daher war er von C.G.Jung so fasziniert – und so enttäuscht. Er hatte gehofft, die Enkel von Rabbinern und Pastoren könnten an einer gemeinsamen, von psychoanalytischem Wissen durchdrungenen und durch dieses Wissen human gemachten Zukunft bauen.
Selbst wenn wir eine Parallelwelt phantasieren, in der Freud und Jung Freunde bleiben, in der Zürich, nicht London Freuds Zufluchtsstätte vor der Gestapo wird, können wir den viel grausameren Schlag gegen alles, was Freud gewollt und geglaubt hatte, nicht wegdenken. Es ist die rassistische Überwältigung seines einst geliebten Deutschland, vor der getaufte (wie Alfred Adler) und gottlose Juden in gleichem Masse fliehen mussten, wenn sie nicht Erniedrigung und Ermordung zum Opfer fallen wollten.

Erschienen 2006 in der Stuttgarter Zeitung

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