Es empfängt Reize von allen Sinnesorganen und ist besonders eng mit dem Geruchssinn verbunden, der bei höheren Tieren den Affekten besonders nahe steht: Aggression, Territorialverteidigung, Sexualität.iii Wir wissen das meiste über die Arbeitsweise des limbischen Systems durch Epileptiker mit atypischen Anfällen, welche durch Funktionsstörungen von Neuronen in diesem Gebiet auftreten. Der (viel häufigere) „große“ epileptische Anfall entsteht durch eine Art elektrischem Flächenbrand der Gehirnrinde. Die Muskeln zucken in extremen Spannungen, der Kranke verliert das Bewusstsein. „Kleine“ Anfälle in der für unsere Bewegungen zuständigen Gehirnregion (dem motorischen Kortex) führen zu bizarren Sequenzen von Muskelzuckungen (Jackson-Epilepsie). Liegt aber der Herd im limbischen System, dann kann religiöse Raserei eine der möglichen Folgen sein. Die Symptome einer Schläfenlappen-Epilespsie sind „emotional“. Obwohl wir meist angesichts erschütternder religiöser Erlebnisse von „spirituellen“, also „geistigen“ Erfahrungen sprechen, handelt es sich duchweg um emotionale Phänomene. Diese unterscheiden sich jedoch von allen bisher vertrauten Gefühlen. Sie werden nicht als innere Zustände erlebt, sondern als die Realität überschreitende Erfahrungen. Wenn wir uns eine Gehirnstruktur vorstellen, die für die emotionale Bewertung von Wahrnehmungen zuständig ist, werden die Folgen einer Über-Erregung dieser Struktur verständlicher. Die Betroffenen sind entzückt oder verängstigt, beides im höchsten Grad. Sie empfinden sinnlos rasende Wut, abgrundtiefe Verzweiflung, berauschende Erlösung. Etwas über ein Drittel (in einer Untersuchung 38 Prozent)iv der Patienten mit Schläfenlappen-Epilepsie erleben Mystik als Symptom. Sie sind überzeugt, den Sinn ihrer Existenz entdeckt zu haben, vom wahren Wesen des Kosmos durchtränkt zu sein, Gott zu erkennen, erleuchtet zu sein. Ramachandran zitiert einen solchen Patienten, der mit acht Jahren seinen ersten Anfall hatte. „Plötzlich sah ich alles kristallklar vor mir … ich hatte nicht mehr den geringsten Zweifel!“ Auf die Frage, ob er das nicht genauer sagen könne, entgegnet er: „Ach wissen Sie, Herr Doktor, das ist nicht leicht. Es ist, als wollten Sie einem Kind, das noch nicht in der Pubertät ist, die Wonnen der Sexualität erklären.“v Ramachandran fasst zusammen: „Die Anfälle – und Erscheinungen – dauern im Allgemeinen nur wenige Sekunden. Doch diese kurzen Schläfenlappenstürme sind manchmal in der Lage, die Persönlichkeit des Patienten dauerhaft zu verändern, sodass er sich auch zwischen den Anfällen von anderen Menschen unterscheidet. Niemand weiß, warum das so ist, doch es hat den Anschein, als würden die wiederholten elektrischen Ausbrüche (die dichten Schauer von Nervenimpulsen, die das limbische System in wiederholten Wellen durchströmen) bestimmte Wege dauerhaft ‚bahnen‘ oder sogar neue Kanäle eröffnen, ganz ähnlich, wie das Wasser eines Wolkenbruchs auf seinem Weg talwärts neue Rinnsale, Bäche und Flüsschen bildet.“vi Wenn ich nach solchen Einbrüchen wieder in den Zustand des normalen Erlebens trete, ist dieses Erleben nicht mehr normal. Das traumatische Ereignis hat Spuren hinterlassen, die vorübergehen können oder aber in irgendeiner Form bestehen bleiben und sich in Vermeidungsverhalten, Zwangserinnerungen niederschlagen, wie es unter dem Krankenheitsbild der posttraumatischen Störungen beschrieben wird.
Veröffentlicht am 5. August 2008
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