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Die Macht der Religion (Teil 1)

Wenn wir davon ausgehen, dass ein Anfall von Temporalepilepsie den Betroffenen „durcheinanderbringt“, dann ist die religiöse Neuorientierung als ein Versuch zu verstehen, solche Ereignisse nicht nur zu verstehen, sondern den Rest der Persönlichkeit neu zu organisieren, sozusagen um dieses Ereignis herum. Diese Reaktionen mit einem „Gottesmodul“ im Gehirn zu verknüpfen, zeigt die charakteristische Mythenbildung in den Neurowissenschaften. Die von dem Epileptiker früher erlernten Bilder, die sich jetzt in einem religiösen Bekehrungserlebnis neu strukturieren, sind genauso wirklich oder unwirklich, sind „Worte, nichts als Worte“, wie die Begriffe, mit denen der Neurowissenschaftler operiert. Sie symbolisieren nur etwas anderes. Das „Gottesmodul“ ist ebenso ein Symbol wie „Jehova“. Nur die Orte und der Kontext unterscheiden sie voneinander: das Gottesmodul finden wir im „limbischen System“, Jehova in einem „heiligen Buch“. Können wir eine „angeborene Religiosität“ dadurch beweisen, dass wir die zerebralen Erregungsmuster meditierender Buddhisten oder betender Nonnen aufzeichnen? Der amerikanische Forscher Andrew Newmann hat über solche Experimente berichtet, bei denen radioaktive Marker und Single-Photon Emission Computed Tomography (SPECT) kombiniert wurden.vii Das Gerät liefert präzise Momentaufnahmen der Durchblutungsmuster im Gehirn auf dem Höhepunkt religiöser Versenkung; es zeigt – wie logisch nicht anders zu erwarten – dass dabei tatsächlich etwas im Gehirn geschieht. Der Untertitel von Newmanns Buch („Wie Glaube im Gehirn entsteht“) leugnet schlicht, dass dieser Glaube via Spracherwerb und kulturelle Prägung erst einmal in das Gehirn gebracht werden muss, um dort „entstehen“ zu können. Das Ganze ist ungefähr so logisch wie ein Buch über die Frage, wie Milch in der Molkerei entsteht. Es gibt einen Grundsatz, der sich mehr als alle anderen der Religion in einer wissenschaftlich geprägten Sicht auf die Welt in den Weg stellt. Dieser Grundsatz wird manchmal Occams Rasiermesser genannt: Principia praeter necessitatem non sunt multiplicanda. Um uns in der Welt der Erscheinungen nicht zu verlieren, müssen wir die notwendigen Prinzipien festhalten und alle entbehrlichen weglassen. Dadurch wird die Gottesvorstellung als Teil einer naturwissenschaftlichen Erklärung der Welt kraftlos. Sie behält ihre immense Bedeutung in der Geschichte und ihre Kraft in jenen Teilen der Psyche, die sich der Mathematik entziehen. Wenn wir Psychologie als Naturwissenschaft sehen, müssen wir in ihr auf Gott verzichten. Wenn wir sie als Geisteswissenschaft sehen, gehört Gott ein Platz in ihr, allein schon deshalb, weil er in der Geschichte der Menschheit so wichtig war und weil eine metaphernreiche Sprache, die menschliche Emotionen weckt und gestaltet, ohne Rückgriff auf Mythos, Legende, Märchen und religiöse Überlieferung arg behindert würde. Ein religionspsychologisch fesselndes und relativ aktuelles Beispiel für die Propheten- Dynamik ist der 1911 geborene und 1986 verstorbene Ron L. Hubbard, der Gründer einer nach eigenen Angaben mehrere Millionen starken Gemeinschaft von „Scientologen“.

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