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Die Macht der Religion (Teil 1)

Bei klarem Verstand, in einer entspannten sozialen Situation, können wir prüfen, ob das, wonach wir vorhaben uns zu verhalten, auch tatsächlich „wahr“ ist. Aber unter emotionalem Druck, aufgewühlt, traumatisiert, verängstigt, empfinden die Menschen die Forderung, zwischen Illusion und Realität zu unterscheiden, als Zumutung. Sie sehnen sich nach erlösender Tat. Wenn der kritische Verstand keine anziehende Handlung bietet, greifen sie nach der Illusion – action is satisfaction. Angesichts des Handlungshungers unserer so leicht emotionalisierbaren Psyche wird die kühle Distanz zur Illusion, wie sie uns Freuds Religionskritik vermittelt, selbst zu einer Illusion. Wenn buchstäblich Millionen zum Begräbnis eines Papstes nach Rom pilgern und dort in allen Schattierungen des Events und der Ergriffenheit feiern, entsteht eine psychische Macht eigener Art. Wieder ist sie vom Standpunkt des Forschers kritisierbar, aber diese Kritik lähmt die Forschung, sobald sie nicht mehr die interessierte Frage zulässt, weshalb zu bestimmten Epochen neue Illusionen soviel mehr Macht gewinnen als alte. So finden wir zu einer neuen Fragestellung: Wir suchen nicht mehr nach Antworten auf die Frage, ob etwas Illusion sei oder Realität, sondern erkunden die Kräfte, die zur Metamorphose der Illusion zur Realität, der Realität zur Illusion beitragen. Illusion ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Man könnte sagen, dass die Fortschritte der Naturforschung das traditionelle Gottesbild geschwächt haben, bis Nietzsche dieses Siechtum mit seinem Satz „Gott ist tot“ überspitzte. Aber die Dinge liegen komplizierter, nicht nur, weil es schon in der Antike Agnostiker und Atheisten gab, sondern auch weil die Definitionen von Gott zu vielgestaltig sind, um ihn mit einer einzigen Formel erledigen zu können. Wenn Gott tot ist, muss er irgendwann gelebt haben. Wenn er aber gelebt und gewirkt hat – warum? Und wenn er es heute nicht mehr tut – warum nicht mehr? Das sind psychologische Fragen, welche eine reine Kritik der dogmatischen Religion verfehlt. Diese Schwäche des Freudschen Denkens angesichts der „heissen“ Religion wird uns noch ebenso beschäftigen wie diese Unterscheidung selbst. Es gibt ein Gerät, den transcranialen Magnetstimulator, mit dessen Hilfe es möglich ist, bestimmte Felder des Gehirngewebes zu reizen, d.h. ihre Aktivität zu erhöhen. Diese Technik entwickelt ein längst bekanntes Verfahren weiter, das im Tierversuch zur Entdeckung der sogenannten „Lustzentren“ geführt hat. Ratten, die lernten, die Elektrostimulation selbst einzuschalten, wurden von der Taste so abhängig, dass sie das Fressen vergaßen und verhungerten. Gegenwärtig lässt sich auf unblutige Weise nur die Oberfläche des Gehirns stimulieren; die menschlichen Lustzentren liegen im Septum, einem Zellhaufen an der Vorderseite des Thalamus in der Mitte des Gehirns, für die gegenwärtigen Apparate (noch) nicht erreichbar. Michael Persingeri probierte einen solchen Magnetstimulator an seinen Schläfenlappen aus und stellte fest, dass er zum ersten Mal ein Gotteserlebnis hatte. Dieser Versuch veranlasste den indischamerikanischen Neulologen Vilyamur Ramachandran zu systematischeren Überlegungen. Der Forscher wusste, dass eine Verbindung zwischen Epilepsie und religiösen Erfahrungen immer wieder diskutiert worden war. Patienten mit Schläfenlappenepilepsie berichten überzufällig häufig (allerdings keineswegs regelmäßig) über intensive spirituelle Erfahrungen und beschäftigen sich nachher zwanghaft mit religiösen Fragen.

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