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Vom Helden zum Bösewicht in zwanzig Zeilen

Unter anderem Titel erschienen in der „Welt am Sonntag“ am 15.9.2019

„Die Zukunft war früher auch besser“ hat Karl Valentin gesagt; der Satz beleuchtet auch das Schicksal der romantischen Liebe. Zu ihrem Wesen gehört ja eine Zukunft wie der Start einer Rakete in eine Flugbahn, so hoch, dass die Schwerkraft der Erde die beschleunigte Kapsel nicht mehr einfangen wird. Dem gesunden Menschenverstand ist das fremd, und er behält meistens Recht. Das Feuerwerk verpufft, eine ausgebrannte Hülle landet, von Absturz und Aufprall mehr oder weniger beschädigt. Romeo und Julia sind ein unsterbliches Symbol geworden, weil sie diesen Absturz nicht erlebt haben und so nach einer einzigen Liebesnacht wie ein Komet ihre Bahn ziehen.

Im 21. Jahrhundert ist es schon fast ein Klischee, dass ein Star unter den Verdacht gerät, er haben seine Macht missbraucht. Der Star erinnert sich an eine romantische Ekstase, an die Illusion via Erotik von seiner Größe etwas abzugeben, Anbetung zu erhören. Wieso hätte er sich in einer erotisch befreiten Gesellschaft angesichts einer Frau zurückhalten sollen, die ihn anschwärmte? Die Frau erinnert sich, widerstrebt zu haben, aber überwältigt worden zu sein; schockiert und verängstigt angesichts des Übermächtigen sei sie nicht in der Lage gewesen, den Übergriff sogleich zu dokumentieren und anzuzeigen.

Alle Romantik ist abhanden gekommen, wenn solche Ereignisse zurück in die Öffentlichkeit kommen – was aber nicht besagt, dass sie niemals vorhanden war. In der medialen und (seltenen) juristischen Aufarbeitung des Geschehens ist von dem ursprünglichen Gemisch aus Idealisierung, Verschmelzung, halb gezogen, halb gesunken nicht mehr die Rede. Es geht um kalte Prinzipien: Ist etwas geschehen? Lässt es sich beweisen? Das Modell der juristischen Aufklärung, an dem sich die Medien orientieren, ist die Interaktion von Handelspartnern. Gab es einen Vertrag? Wie sah er aus? Gibt es Dokumente? Andere Beweise?

Während in der Geschichte zum Sexualakt hin Verschmelzung und Illusion vielleicht ihren Raum hatten, wird in der Erzählung einer desillusionierten Gegenwart zum Sexualakt zurück dieses „vielleicht“ gänzlich ausgeschlossen, von Anklage wie von Verteidigung in kalter Gemeinsamkeit. Es ist, als hätten die Beteiligten das Fernrohr umgekehrt: waren zuerst die Gefühle groß und die Bedenken schwach, überwiegt jetzt die Kränkung durch ein kaltes Urteil. Beide Seiten haben verdrängt, was jemals an romantischer Illusion, an Verschmelzung und Teilhabe in einer erotischen Szene hätte gewesen sein können. Es ist sehr kalt geworden zwischen dem Opfer einer Gewalttat und dem Opfer einer rufschädigenden Anklage.

Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur AP erhoben im Sommer 2019 Frauen Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen den mittlerweile 78jährigen Sänger und Dirigenten Placido Domingo. Dieser weist die Vorwürfe zurück als Anschuldigungen ungenannter Personen, die bis zu dreißig Jahre zurückliegen. Er sei überzeugt gewesen, „dass all meine Handlungen und Beziehungen immer gewünscht und einvernehmlich waren.“ Es fallen Worte wie „unethisch“ und „Kampagne“.

Der Verdacht wird bleiben und – verdient oder unverdient – den Lebensabend des Sängers belasten. Nichts ist bewiesen, aber sobald die ersten Anklägerinnen öffentliche Aufmerksamkeit gewannen, meldeten sich auch weitere zu Wort, prominente Fürsprecherinnen, die Domingo verteidigten, ebenso wie Frauen, die ihn übergriffig erlebt hatten. Ein Musikkritiker sagt dazu: Alle, die mit Domingo zu tun haben – Intendanten, Orchester, Opernhäuser, Publikum – müssen Haltung beziehen: Ob sie Domingo glauben oder den Frauen, ob ihnen die Kunst wichtiger ist oder die Moral.

Das Publikum der Festspiele in Salzburg hat Domingo im August geradezu ostentativ bejubelt. Er wird dort weiter auftreten. Das Philadelphia Orchestra und die Oper in San Francisco sagten dagegen Domingo-Auftritte ab.  Domingo arbeitet inzwischen auch als Dirigent und Intendant; er leitet seit 2003 die Oper von Los Angeles. Dort wurden eigene Ermittlungen angekündigt. Andere Opernhäuser wollen jetzt erst einmal abwarten, was sich in Kalifornien klären lässt.

In der Stellungnahme des Kritikers zeigt sich die gegenwärtige Begriffsverwirrung. Die Paare Kunst/Moral – Domingo/Frauen können nur ein schiefes Bild liefern. Kunst und Moral sind keine Alternative, die zu einer Entscheidung zwingt. Sie bewegen sich in verschiedenen Sphären; die Mona Lisa bleibt ein Kunstwerk, gleichgültig ob Leonardo da Vinci pädophil war oder nicht. Ob eine Anklage zutrifft oder üble Nachrede ist, sollte ein Gericht entscheiden. Gerichte entscheiden langsam, während die Medien schnell dabei sind, eine Meldung zu bringen. Wer das Motiv vom Versagen eines Idols aufgreift, kann sich der öffentlichen Aufmerksamkeit sicher sein.

Die menschliche Erinnerung ist ein fragiles, extrem subjektives Ding, das sich selbst felsenfest für objektiv hält. Unsere kleinen grauen Zellen sind keine Tontafeln, in denen das Eingegrabene hart gebrannt für Jahrzehnte identisch bleibt. Es sind Geschichtenerzähler, die von Tag zu Tag die Vergangenheit mit der Gegenwart so abstimmen, dass ihr herrschendes Prinzip, das große Ich, am besten dasteht.

Der verführerische Held ist Stoff für die große Oper. Zuschauer und wohl auch Zuschauerinnen genießen die heimliche Freude von Textdichter und Komponist, dass es doch geraume Zeit dauert, bis der Wüstling die gerechte Strafe bekommt. Dem Don Giovanni der Moderne droht nicht die Hölle im Jenseits, sondern ein Rachechor von Frauen, denen er zu nahe getreten ist. Die Einzelne war zu schwach, sich angemessen zu wehren, aber vereint können sie ihn besiegen. Sie werden ihn in Stücke reißen, wie die Mainaden den König, der ihnen Einhalt gebieten wollte. Aber es ist nicht der Kult des Dionysos, der hier eingeführt werden soll, sondern der Glaube an eine von Illusion und Verschmelzung befreite, von rationalen Individuen gestaltete Sexualität.

Das scheint die wirkliche Neuerung in der Mediengesellschaft: Es darf niemand groß bleiben; die Schwächen der Mächtigen überwältigen den Respekt vor ihnen. Schon lange ist der Titel „der Große“ nicht mehr verliehen worden. Der letzte war König Friedrich von Preußen, wie seine Vorgänger, der Makedonierkönig Alexander und der Frankenkönig Karl ein verehrter Herrscher, groß gewiss auch im angerichteten Leid für sein Volk und dessen Nachbarn. Heute gibt es nur noch unzählige, selbsternannte „Größte“, die in vielen Farben schillern und platzen wie Seifenblasen.
Jemanden dauerhaft gut zu finden, über Berg und Tal an ihm festzuhalten, das passt nicht zu einem Zeitgeist, in dem der größte Feind des eben noch besten Smartphones aller Zeiten sein Nachfolgemodell ist. So gewöhnen wir uns an die Flüchtigkeit des Bewunderten; aus Stars werden Schnuppen.

Und wie wird es weiter gehen? Von Nachhaltigkeit wird zwar viel geredet, aber mit ernsthaften Schritten in diese Richtung tun wir uns schwer. Eine nicht sonderlich erfreuliche Konsequenz der gehäuften Abstürze von Stars sind völlig unempfindlich wirkende Selbstbewunderer, die sich mit einer kritikfesten Mauer an Selbstbeweihräucherung umgeben. Ich vermute, dass erst in einer Gesellschaft, die wirklich ins Handeln gekommen ist und nicht mehr nur nachdenkt über ihren falschen Umgang mit allem, was ihr anvertraut ist, der Verschleiß an den Gütern der Natur ebenso wie der an menschlicher Würde langsamer wird. Der Star, der seinen Glanz missbraucht, ist ebenso ein Auslaufmodell wie die Frau, die sich mehr gefallen lässt als ihr gefällt und erst in der Opferschar die erlittene Kränkung zurückzahlt.

Zum Thema passt „Helikoptermoral„, erschienen 2017 im Kursbuch-Verlag in Hamburg.

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