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Minenfeld oder Kreidekreis?

Dieser Essay erschien im Juli 18 leicht verändert unter dem Titel „Auf dem Weg zum verlässlichen Bürger“ in der Welt am Sonntag

Ehe der Fall Özil so durchgenudelt ist, dass keiner mehr etwas davon hören kann, sollte doch die Frage gestellt werden: Was können wir daraus lernen?
Als meine Großeltern heirateten, war es ein Skandal, dass sich eine katholische Kaufmannstochter in einen evangelischen Juristen verliebt hatte. Der Jurist musste zusichern, dass die gemeinsamen Kinder katholisch getauft wurden. Sonst drohte der Großmutter die Exkommunikation. Ich selbst habe im katholischen Passau noch eine Predigt gehört, dass Kinder aus „Mischehen“ spätestens in der [...]

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Hinter Tugendmasken stecken oft Fanatiker

Mediengesellschaften entwickeln eine dekontextualisierte Ethik, die ich anschaulicher Helikoptermoral nenne. Dekontextualisiert heißt: Werte werden aus dem Zusammenhang gerissen. Sie werden zum Superlativ übersteigert, sobald sich Zweifel melden. Sie spalten den Blick auf die Welt. Statt das Zusammenleben der Menschen angemessen zu regulieren, wird diese Moral zu einem Mittel, einen Sturm der Entrüstung zu entfesseln, die eigene Geltung auf Kosten eines Denunzierten zu steigern und in der Folge Menschen zu zerstören.
Charakteristisch für die Helikoptermoral ist das schnelle, dramatische Urteil, das die klassische Gewaltenteilung völlig ignoriert: Anklage wird Schuldspruch. Ein Beschuldigter verliert Stellung und Ansehen, ehe die Vorwürfe geklärt sind. Die [...]

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Eine neue Unfähigkeit zu trauern?

Wer von dem Berliner Anschlag hörte, dachte wohl zuerst: Jetzt auch bei uns! Obwohl schon im Januar 2016 die Bombe eines Terroristen in Istanbul zehn deutsche Reisende in den Tod riss, war Berlin verschont geblieben, anders als Paris, Brüssel oder Nizza. Was Anlass zu den folgenden Überlegungen gibt, ist der öffentliche Bezug zu den Opfern, der merkwürdig kühl und auch schwächlich erscheint, wenn wir ihn beispielsweise mit den Tagen in Frankreich nach dem Angriff auf Charlie Hebdo vergleichen.

In den Medien dominierte nach der Tat die Frage nach dem Versagen der Geheimdienste und der Polizei, die einem erkannten „Gefährder“ den [...]

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Massenmord als narzisstische Geste des 21. Jahrhunderts

Dieser Artikel erschien gekürzt und unter einem anderen Titel am 27.7.2016 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung

Nach Winnenden, Erfurt, Würzburg, nach Charleston und Columbine High School jetzt also auch München. „Sinnlose“ Massenmorde durch Halbwüchsige mit automatischen Waffen gehören zu den großen Gesten in den Konsumgesellschaften des 21. Jahrhunderts. Sie werden zunehmen und uns bedrohen, bis wir ein wirksames Gegenmittel finden.
Die meisten gewissenhaften Selbstbeobachter werden zugeben, dass ihnen Mordimpulse nicht gänzlich fremd sind. Kaum einer hat das in einer so schönen Mischung von Idylle und Schauder vorgetragen wie Heinrich Heine:

„Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene

[...]

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Auf dem Weg in eine defensive Psychotherapie

Die ärztliche Heilkunde hat sich in den letzten Jahrzehnten in eine defensive Medizin verwandelt, und die Psychotherapie macht sich gerade auf den Weg, es ihr gleich zu tun. Schadenersatzprozesse und Medienkritik setzten seit geraumer Zeit Ärzte, Pharmaindustrie und Kliniken unter Druck. Der Arzt verschreibt ein Medikament; der Patient liest den Beipackzettel und nimmt es nicht: er hat Angst vor den Nebenwirkungen. Exakte Zahlen sich schwer zu gewinnen, aber Kenner schätzen, dass ungefähr die Hälfte der verschriebenen Medikamente in den Müll wandert.

Aber darf ein Arzt oder Apotheker empfehlen, den Beipackzettel des Medikaments nicht zu lesen, um nicht den negativen Suggestionen [...]

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Die Bedeutung der Handarbeit für den Kopf

Der Mensch verdankt seine Intelligenz zum guten Teil den werkzeugschaffenden, geschickten Händen. Die freiwillige, selbstgesteuerte, die von wohlmeinenden und kundigen Eltern dem Kind auferlegte Handarbeit ist ein unverzichtbares Mittel, unseren Kontakt mit der Wirklichkeit zu verbessern, unsere Triebenergie in konstruktive Bahnen zu lenken und unsere Persönlichkeit zu entwickeln.

Die Bewertung von Handarbeit als „primitiv“ und geistesfern, die seit dem griechischen „Banausos“ für den Handwerker im abendländischen Denken nachweisbar ist, erscheint unter diesem Gesichtspunkt nicht nur töricht, sondern auch gefährlich. Sie gehört in eine vorindustrielle Epoche, in der es noch keine Kraftmaschinen gab, alle Menschen gehen oder reiten mussten und die [...]

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Sexuelle Gewalt und männlicher Narzissmus

Die Silvesternacht in Köln, ein paar Wochen vor dem Karneval, Feierlaune, Betrunkene, die nicht vorsichtig genug mit ihren Böllern und Raketen umgehen – und plötzlich kippt die Szene, wird zum sexualisierten Mobbing, zur spontan organisierten männlichen Kriminalität gegen Frauen. In der Folge schrille Fragen nach dem Zusammenprall von Kulturen, dem Umgang mit Migranten. Auf Veranstaltungen der rechten Szene wird ein T-Shirt verkauft, auf dem eine Frau vor Männern flieht; Text: Rapefugees not welcome. Die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof haben ein Phänomen nach Deutschland transportiert und unter ein politisches Vergrößerungsglas gelegt, das sich an vielen Orten in der Welt schon geraume [...]

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Die Justiz schweigt

Warum wir den Grund für das Morden nicht wissen wollen – und wie weit der Weg ist, um der Gefahr zu entkommen

„Es ist schwer, das Unfassbare zu begreifen.“ „Wir werden es wohl nie verstehen.“ Der erste Satz kommt aus einer aktuellen Tageszeitung nach dem rassistischen Massenmord an Kirchgängern in Charleston, Süd-Carolina. Der Täter, ein weißer 21jähriger, erschoss neun Menschen in einer vorwiegend von Schwarzen besuchten Kirche, nachdem er eine Stunde an der Bibelstunde teilgenommen hatte. Der zweite Satz stammt von dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Er fiel nach dem Massaker an der Columbine High School. Einige Monate vor Charleston [...]

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Auf nicht natürlichen Wegen

Wer als Psychoanalytiker täglich mit den seelischen Nöten der Menschen des 21. Jahrhunderts zu tun hat, kann glatt zum Nostalgiker werden. Was die Angst vor falschen Entscheidungen angeht, war vordem das Leben wahrhaftig bequemer. Ob Krankheit oder Gesundheit, Geburt oder Tod: unsere prägenden Affekte fordern gebieterisch, schnell aus der Zone der Unsicherheit an einen sicheren Ort zu kommen. Und die von uns geschaffenen technischen Möglichkeiten stehen dem im Weg.

Dieser Entscheidungsdruck lastet auch auf Paaren, die sich ein Kind wünschen und keines bekommen. In der guten alten Zeit musste sich ein Paar mit seiner Unfruchtbarkeit abfinden; meist trug die Frau, [...]

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Freunde bleiben, Feinde werden?

Es gibt Türen, durch die man sehr viel leichter eintreten kann, als man später hinauskommt. Die Ehe ist eine davon. Die Kosten der Urkunde sind minimal, verglichen mit den Beträgen, die bei einer Scheidung fällig werden. Daher will beides realistisch bedacht sein, die Bindung wie die Trennung. Von diesem Trennungsrealismus soll hier die Rede sein.

Dass er Not tut, ist einsichtig. Zu oft entbrennen ausdauernde und kostspielige Kämpfe, die nach einem Hollywood-Streifen „Rosenkrieg“ genannt werden. Die Rose ist das Symbol der Liebe, war aber zwischen 1455 und 1485 das Symbol heftiger Kämpfe um die britische Krone zwischen der roten Rose [...]

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