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In Zukunft wird es noch komplizierter

Die Ansteckung ist ein Problem - die Unterstützung des Immunsystems ein Dilemma. Mehr Empathie und weniger Technokratie tun not.

Zwischen dem Problem und dem Dilemma zu unterscheiden ist ein Denkmodell, das uns in schwierigen Situationen weiterhilft. Während das Problem gelöst werden kann, ist das Dilemma unlösbar. Die Corona-Krise liefert viele Beispiele dafür. In den politischen und medialen Reaktionen tritt die Ansteckung durch die Übertragung eines Virus absolut in den Vordergrund, ein typisches Problem mit klarer Ansage – ich bin entweder kontaminiert oder nicht. Das Dilemma meldet sich, sobald wir uns über die komplexen Bedingungen der menschlichen Immunabwehr informieren, die darüber entscheidet, ob und wie wir eine Virusinfektion bewältigen. 

Wenn ich beispielsweise kategorisch verbiete, dass alte Menschen in Heimen von ihren Angehörigen besucht werden, schütze ich sie hoffentlich vor einer Covid-19-Infektion. Gleichzeitig löse ich aber womöglich eine Depression aus, die ihre Immunabwehr so schwächt, dass sie einem der Keime erliegen, die längst im Heim zirkulieren.

Sollen wir zu Maßnahmen greifen, die für einen minimalen Gewinn an Ansteckungskontrolle den Menschen Möglichkeiten rauben, sich überhaupt noch sicher und geborgen zu fühlen in dieser neu geschaffenen Sozialwelt? Jogger im Stadtpark festnehmen, verbieten, dass Hunde Gassi geführt werden?

Der hohe Organisationsgrad der modernen Gesellschaften hat eine wenig reflektierte Entwicklung zu einem kalten Denken in simplen Alternativen induziert. Eine auf plakative Vereinfachung zielende Konstruktion des medialen Events gibt häufig vor, wir könnten ein Dilemma in ein Problem zurückverwandeln – mit schwerwiegenden Folgen. Wer in Zeiten größter Unsicherheit die Gefahr erst verleugnet und dann durch „radikale“ Gegenmaßnahmen wieder Punkte gewinnen möchte, tut den Bürgern keinen Dienst.

Es ist eine gesicherte psychologische Erkenntnis, dass nicht die realistische, sondern die dramatische Gefahr (also nicht der Autounfall, sondern der Flugzeugabsturz) unsere Phantasie stimuliert und unsere Ängste prägt. Die Nachrichten von Überlastung der Kliniken, wirtschaftlichem Absturz und drohenden Todesfällen sind unter dem Gesichtspunkt des kalten Denkens korrekte Warnungen, um einen kontrollierten Ablauf der Pandemie durchzusetzen. Psychologisch sind sie durch die induzierte Panik schädlich, in einem Umfang, der nicht deshalb geringer sein muss als das Risiko durch den Kontakt mit dem Virus, weil er sich schlechter objektivieren lässt.

Wenn ich von vielen tausend Coronatoten lese oder höre, wird auf den subtilen, aber unzweifelhaft belegten Wegen der Psychoimmunologie mein Glaube geschwächt, dass ich eine Ansteckung verkraften kann. Da nützt es nicht viel, wenn sich bei genauerem Hinsehen zeigt, dass viele Verstorbene schon vor der Infektion chronisch krank waren und im Grund nicht an, sondern mit dem Virus gestorben sind.

In den Ermutigungsansprachen der politischen Führer weltweit dominiert eine falsche Sicherheit, die oberste Priorität für Gesundheit und Leben zu kennen und sich energisch für sie zu entscheiden. Der populärste Mann ist nun, von der Welle des Events nach oben gespült, ein Landesvater, der das Gemeinwohl durch seine Restriktionen sichert. Leben vor einem schnellen Tod an definierter Ursache zu bewahren, schenkt den Virologen eine Expertenmacht, um die sich etwa die Klimaforscher seit Jahren vergeblich bemühen.

Wir werden erst in den nächsten Jahren einigermaßen beurteilen können, was für die Gesundheit der Menschen auf dem Planeten segensreich, was schädlich war von den Maßnahmen, welche in der Corona-Krise getroffen wurden. Je länger wir mit ihr leben, desto stärker wird sie sich in Einzelschicksale auflösen, desto mehr werden neben den Virologen auch die Psychoneuroimmunologen und die Therapeuten zu Wort kommen, die sich theoretisch und praktisch mit der menschlichen Widerstandskraft beschäftigen.

Sicher wissen wir schon heute, dass Ängste und Depressionen das Immunsystem schwächen. Die Politiker haben viel versprochen, um die Menschen zu entlasten, die um ihre Zukunft bangen. Aber tönende Reden über schnelle und unbürokratische Hilfe bringen den Bürger zur Verzweiflung, wenn sie sich im konkreten Fall als schlichte Lügen entpuppen. Ein Künstler, dem die staatlichen  Verbote Auftritts- und Verdienstmöglichkeit genommen haben, stellt einen Antrag. Er gerät unter eine Lawine von Bürokratie, wird auf das Internet verwiesen, die Zuständigen sind ins Homeoffice verschwunden und schicken erste einmal hundert Seiten Text, fordern ein Dutzend Bestätigungen in beglaubigter Abschrift.

Unter unbürokratischer Hilfe stellt sich ein geplagter Mensch vor, dass er zu einem anderen Menschen Kontakt findet, der ihm zuhört, sich in seine Lage versetzt, vielleicht das eine oder andere Dokument studiert,  um Missbrauch auszuschließen. Nach ein bis zwei Stunden wird die Hilfe gegeben oder verweigert; wird sie verweigert, kann es umständlicher werden, weil dann Streitfragen geklärt werden müssen. Aber erst einmal und ganz selbstverständlich bis zum Verdacht auf das Gegenteil wird ebenso geglaubt und vertraut wie gezweifelt und kontrolliert.

Das kalte Denken geht immer vom Negativen aus und sucht es um jeden Preis zu kontrollieren; das warme Denken orientiert sich an der Empathie. Weder leugnet es die Gefahr, noch die Tatsache, dass die meisten Menschen Vertrauen verdienen und es erst einmal darauf ankommt, ihnen Sicherheit zu geben. Es fließt leicht von den Lippen und in die Tastaturen, dass der Staat für die Bürger da ist. Wer aber etwas von einem Staat möchte, der in der Krise behauptet hat, alles für die Bürger tun zu wollen, stößt auf jenes bürokratische System, dessen Überwindung ihm soeben zugesagt wurde.

Das kalte Denken geht von einem Betrüger aus und fordert erst einmal den Beweis, keiner zu sein. Am schlimmsten wirkt es auf die Psyche, wenn warme Zuwendung zugesichert, aber Kälte praktiziert wird. Die Coronakrise produziert Gewinner und Verlierer in einer bisher nie da gewesenen Selektion und Intensität. Wer mit einem kleinen Laden, einer Ich-AG als Musiker, Theatermacher, Autor bisher gut durchgekommen ist, sieht bedroht, woran sein Herz hängt. Wer sich über den Trott als Beamter geärgert hat, sieht auf einmal den Segen eines festen Gehalts und einer sicheren Pension in leuchtenden Farben.

Es ist leicht, guten Mut zu predigen, aber schwer ihn unter widrigen Umständen zu bewahren. Vielleicht hilft die Corona-Krise einer Leistungsgesellschaft wieder, die Kunst zu erlernen, ordentlich krank zu sein. Kinder bewältigen die Infektion beileibe nicht nur deshalb am besten, weil ihr Immunsystem gut trainiert ist. Sie machen sich in der Regel auch weniger Sorgen als die Erwachsenen, sie können den inneren Druck besser abwehren, der schon immer eine große Gefahr bei Virusinfektionen gewesen ist. Sie fühlen sich krank, wenn sie krank sind, legen sich ins Bett, wenn sie fiebern, und stehen auf, wenn es ihnen besser geht.

Anders die ehrgeizigen, sportlichen Erwachsenen, die auch schon in Vor-Corona-Zeiten lebensgefährliche Verläufe von Lungenentzündungen boten, weil sie ihre Erkältung kleinredeten und mit schnell eingeworfenen Medikamenten Symptome unterdrückten, um weiter zu arbeiten und womöglich auch noch ihr Fitness-Studio aufzusuchen. Wenn sie dann plötzlich mit schwersten Symptomen zusammenbrechen, wird das gegenwärtig der Unberechenbarkeit des Erregers zugeschrieben, nicht der Unfähigkeit der Erkrankten, ihren inneren Zustand ernst zu nehmen. Wenn die Coronakrise der Menschheit hilft, sich ein wenig von dem Raubbau an ihren seelischen Ressourcen zu distanzieren und die Verleugnung von Grenzen der eigenen Belastbarkeit in Frage zu stellen, kann sie auch eine wohltätige Seite haben.

Erschienen am 8.4.2020 unter dem Titel „Eine Leistungsgesellschaft muss lernen, wieder krank zu sein“ in Die Welt, Meinung

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