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Wie groß ist die Bedeutung von Handarbeit für den Kopf?

Ein Gastbeitrag im Mannheimer Morgen

Ich habe mich diesen Herbst während einer Erkältung nicht geschont und eine Quittung bekommen, die es in sich hat: eine Gürtelrose. Eine faszinierende Krankheit, sagte mein Schmerzarzt: Sobald die Immunabwehr geschwächt ist, erwachen die über viele Jahrzehnte in einem Nervenstrang schlummernden Herpes zoster-Viren, wandern an die Hautoberfläche, vermehren sich dort in einem Bläschen-Ausschlag und schädigen den Nerv derart, dass er auch noch nach dem Heilen der Bläschen schmerzt, als ob glühende Würmer unter der Haut krabbeln.
Gegen Schmerzen helfen Medikamente – und Ablenkung. Wer etwas anders im Kopf hat, von etwas begeistert ist, spürt den Schmerz nicht. Das ist mindestens so gut wie Opium und seine synthetischen Töchter.

„Der Mensch verdankt seine Intelligenz zum guten Teil den werkzeugschaffenden, geschickten Händen.“

Ich hatte ausführlich Gelegenheit, herauszufinden, was die besten Ablenkungen sind. Schreibtischarbeit, in vielen Berufen unvermeidlich, eignet sich schlecht. Viel besser sind interessante Gespräche. Noch besser ist es, etwas mit den Händen zu machen, das Konzentration erfordert und Erfolgserlebnisse verschafft.
In den Wochen, in denen ich um jede Ablenkung von meinen Schmerzen dankbar war, habe ich viel aufgeräumt, gebastelt, alle möglichen Dinge repariert und war sogar für jene besonders fordernden und schwierigen Therapiesituationen dankbar, die volle Konzentration fordern und es verhindern, dass die Gedanken abschweifen und endlich, wie magnetisch angezogen, beim Schmerz verweilen.
Der Mensch verdankt seine Intelligenz zum guten Teil den werkzeugschaffenden, geschickten Händen.
Die freiwillige, selbstgesteuerte, die von wohlmeinenden und kundigen Eltern dem Kind auferlegte Handarbeit ist ein unverzichtbares Mittel, unseren Kontakt mit der Wirklichkeit zu verbessern, unsere Triebenergie in konstruktive Bahnen zu lenken und unsere Persönlichkeit zu entwickeln.
Die Bewertung von Handarbeit als „primitiv“ und geistesfern, die seit dem griechischen „Banausos“ für den Handwerker im abendländischen Denken nachweisbar ist, erscheint unter diesem Gesichtspunkt nicht nur töricht, sondern auch gefährlich. Sie gehört in eine vorindustrielle Epoche, in der es noch keine Kraftmaschinen gab, alle Menschen gehen oder reiten mussten und die Lebensform einer „couch potato“ von heute undenkbar war.
Damals wurden viele Menschen zur körperlichen Arbeit gezwungen, nicht selten gepeitscht, mit der Folge, dass die Schufterei sich mit dem Hass auf die Sklaventreiber verband und die Kraftmaschine heilig gesprochen wurde, sobald sie erfunden war. Wie sehr das übertrieben werden kann, zeigen absurde Extreme technischen „Komforts“ wie das elektrische Messer, um Wurstscheiben zu schneiden, die batteriebetriebene Käsereibe, der elektrische Fensterheber im Auto, die mit Hilfe von Batterie und Funk ferngesteuerte Schaltung am Fahrrad, die „elektrische“ Armbanduhr, die vielfach das so viel elegantere mechanische Automatik-Werk ersetzt hat. Die Ärzte klagen, dass viele Krankheiten durch Bewegungsmangel entstehen; die Konsumgesellschaft trachtet danach, uns möglichst viel Bewegung zu ersparen.
Jeder Mensch braucht ein gewisses Maß an körperlicher Anstrengung, um gesund zu bleiben. Für den Künstler ist der Widerstand der Materie ein ganz wesentlicher Anstoß von Kreativität. Handarbeit erfüllt Körper und Geist. Sie befriedigt beide, vor allem der Wechsel von Handund Kopfarbeit, bei dem die Kopfarbeit Ausruhen von der körperlichen Belastung bietet, die Handarbeit Regeneration der einseitigen Konzentration. Bewegung ist ein Lebenselixier. Wir sind nicht zum Sitzen geboren, sondern zur Tätigkeit, zum Sammeln und Jagen, zum Basteln und Probieren.

„Wir fahren im Auto zur Arbeit, und abends kämpfen wir dann auf dem Fahrrad-Ergometer gegen Übergewicht.“

Handarbeit, die menschliche Gesundheit erhält, muss allerdings eine Bedingung erfüllen: Sie muss als sinnhaft erlebt werden.
Der amerikanische Sozialphilosoph Richard Sennett veröffentlichte 2008 ein Buch mit dem Titel Handwerk. Er beklagt, dass sich Akademiker in der Regel zu wenig auf die Welt der Dinge und die Bedeutung der Hände für den Kopf einlassen. Das handwerkliche Ethos guter Arbeit geht nicht allein dann verloren, wenn Menschen Maschinen zuarbeiten müssen und sich selbst auf einige immer gleiche Handgriffe reduziert sehen. Es leidet auch darunter, wenn die Verbindung zwischen Hand und Geist abreißt.
Wer Produktentwicklungen verfolgt, erkennt zwei Götzen, denen sie sich unterwerfen: Zeitersparnis und Bequemlichkeit. Wir fahren im klimatisierten Automobil in die Arbeit und kämpfen dann abends auf dem
Fahrrad-Ergometer gegen Übergewicht. Atrophie von Muskulatur und Sinnestätigkeit wird durch das Versprechen legitimiert, wir hätten durch diese Erleichterungen Zeit gewonnen. Gesunde Menschen werden so lange wie Behinderte behandelt, bis sie tatsächlich behindert sind.
Wer gelernt hat, ein Auto zu schalten, braucht kein Automatikgetriebe; er gewinnt dieser Tätigkeit oft das Gefühl eines engen Kontakts zu seinem Fahrzeug ab. Wer das Fahren mit Hilfe eines automatischen Getriebes erlernt, findet es „gefährlich“, zu dem handgeschalteten Auto zurückzukehren. Der Schaltvorgang strengt ihn an, lenkt ihn ab, ist unbequem.
Wer erst einmal anfängt, die manuellen Beraubungen in der entwickelten Konsumgesellschaft zu erforschen, findet viele Beispiele. Die Handkurbel, um ein Auto anzuwerfen, der Trethebel, mit dem ein Motorrad gestartet werden kann – sie alle wurden durch „bequemere“ Lösungen ersetzt, die uns nicht nur einer Möglichkeit zur körperlichen Tätigkeit berauben, sondern Rohstoffe vergeuden und uns von störanfälligen Energiequellen abhängig machen.
Die Konstrukteure rechtfertigen das damit, dass der Markt das eben so entschieden hat. Abgesehen davon, dass sich mit diesem Argument
auch der Vertrieb von Heroin rechtfertigen lässt, kann sich der Markt nur so lange für den Raubbau an natürlichen Rohstoffen und menschlicher Gesundheit entscheiden, wie die Folgen nicht von den Produzenten, sondern von der Allgemeinheit getragen werden.
Wenn der Fahrradmechaniker einen tadellosen Schlauch, den ein Glassplitter perforiert hat, in den Abfall wirft, erklärt er das damit, dass die Arbeitszeit, den defekten Schlauch zu reparieren, den Kunden mehr Geld kostet als der Ersatz. So wird uns beigebracht, dass Handarbeit teuer ist, während es Rohstoff und Energie im Übermaß gibt. Dass diese „Erziehung“ in eine falsche Richtung arbeitet, könnte seit den ersten Studien zu den Grenzen des Wachstums im Jahr 1977 klar sein –

„Technische Lösungen berauben die Nutzer der Möglichkeit, Geist und Körper zu üben.“

oder wollen wir es erst seit den „Fridays for Future“ von 2019 wissen? Ich habe vor einigen Jahren den Begriff der „dummen Dinge“ für Entwicklungen geprägt, in denen „komfortable“ technische Lösungen die Nutzer der Möglichkeit berauben, Geist und Körper zu üben. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist der übliche Bleistiftspitzer in den Mäppchen der Schüler.
Der Bleistift, den wir heute kennen, schreibt nicht mit Blei, sondern mit Graphit. Er ist von unübertroffener Bequemlichkeit und Ökonomie. Kein Kugeloder Faserschreiber kann so viele Zeichen mit so hoher Verlässlichkeit und so guter Überschaubarkeit für so wenig Geld bieten. Die färbende Mine ist von einem Mantel aus Holz umgeben, der sie bruchsicher macht. Abgenützt, versteckt sie sich in einem Holzkragen; der Bleistift muss gespitzt werden.
Meine Mutter, von Beruf Lehrerin, nahm ein scharfes Federmesser und schnitzte fünf bis sieben Späne so ab, dass die Bleistiftspitze wieder frei lag und die Mine einen feinen Strich zeichnete. Wir brachten ihr unsere Bleistifte, wenn die „Bleistiftspitzer“ in unseren Federmäppchen die Mine abgedreht hatten.
Diese kleinen Geräte sind ein elementares Beispiel für ein dummes Ding. Ihr Versprechen ist, die komplexe Handarbeit des Spitzens in einer simplen Drehbewegung zu leisten. Sie berauben uns einer kostbaren Übung, wie das später die motorisierten „Haushaltsgeräte“ tun werden, die der Profi-Koch so verachtet, weil nichts ein wohl geschärftes Messer ersetzen kann.
Während der „Spitzer“ das Training von Feinmotorik und Materialkenntnis auf ein Minimum reduziert, ist das scharfe Federoder Taschenmesser ein vielseitiges Werkzeug, in dessen Gebrauch sich die Geschicklichkeit des Handwerkers üben und verbessern kann. Fehler und Gelingen werden sogleich zurückgemeldet; nebenbei lernen wir, scharfe und stumpfe Schneiden zu unterscheiden und womöglich auch, wie wir eine stumpfe Schneide schärfen können.
Als ich mit neun Jahren das Schachspiel erlernte, wunderte ich mich über den weißen König: Er hatte zwar genau die Gestalt des schwarzen, war aber von zahlreichen feinen Narben übersät. Meine Mutter klärte mich auf: Der ursprüngliche König war irgendwann verloren gegangen. So hatte sie aus einem Stück Besenstiel einen neuen geschnitzt.

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