Alle Artikel in: Kolumnen

Wenn der Tagtraum zur Sucht wird

Verzicht fällt dem Menschen schwer; er gibt Wünsche ungern auf. Wenn er es tun muß, sucht er, sich zu entschädigen – er schafft sich ein Doppelleben, eine zweite Existenz, in der Wünsche erfüllt werden, ohne daß die Realitätsprüfung einschreitet. Unser Wissen, dass das alles nicht wirklich ist, beeinträchtig die Lust nicht, sondern gibt ihr nur eine andere Qualität.

Freud sagte: „Die Schöpfung des seelischen Reiches der Phantasie findet ein volles Gegenstück in der Einrichtung von ‚Schonungen‘, ‚Naturschutzpark‘ dort, wo die Anforderungen des Ackerbaues, des Verkehrs und der Industrie das ursprüngliche Gesicht der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen….Alles [...]

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Denkfehler in der Familienpolitik

Einige Anmerkungen zu der Unterstellung, homosexuelle Paare würden Kindern schaden Die Adoption eines Kindes durch ein lesbisches oder schwules Paar wird sicher ein seltenes Ereignis bleiben. Aber sie passt manchen Konservativen nicht. Diese begründen ihr Missfallen manchmal auch psychologisch. Ein solches Elternpaar schade der seelischen Entwicklung, denn homosexuelle Eltern würden sich Kinder aus egoistischer Bedürftigkeit zulegen. "Es geht bei dem Vorschlag allein um die Selbstverwirklichung von Lesben und Schwulen und nicht um das Wohl der Kinder", tönte Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag, gegen den entsprechenden Vorschlag der...

Unser Medizinsystem

Es ist schon dreissig Jahre her, aber solche Erlebnisse vergisst man nicht: Auf einem Badeausflug mit dem Fahrrad an einem schönen Junitag sauste ich Kopf voran auf den Teerbelag der Strasse. Später rekonstruierte ich, dass meine vierjährige Tochter, die vor mir auf einem Schalensitz saß, mit dem Absatz ihrer Holzsandalen in die Speichen geraten war. Sie plumpste auf mich und blieb unverletzt. Meine Oberlippe war gerissen, Platzwunden im Gesicht, gottlob nichts gebrochen, kein Zahn ausgeschlagen.

Ich fand den Chirurgen, in dessen Praxis ich gebracht wurde, eine ehrfurchtgebietende Persönlichkeit, mindestens einen Kopf größer als ich, breitschultrig, Ruhe ausstrahlend. Er injizierte ein [...]

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Kleine Rechthabereikunde

Es gibt eine ganze Reihe von Beschäftigungen, deren Ansehen sehr viel geringer ist als ihre Beliebtheit: Pralinenessen, Seitensprünge, Komasaufen, Steuerschwindel, Blaumachen – und Rechthaben. „Reine Rechthaberei“, „Du willst immer nur rechthaben!“ „Dein sei das letzte Wort!“

Wer wie der Autor einen guten Teil seiner täglichen Arbeit mit Paaren verbringt, die ihre Liebesbeziehung als unbefriedigend und stressreich empfinden, hat auch täglich Anschauungsuntericht über Rechthaberei. Er bemerkt, dass die eigene Rechthaberei völlig unauffällig abläuft und gänzlich mit sich selbst einverstanden ist, bis sie mehr oder weniger schmerzhaft an die Rechthaberei des Partners stösst. Die eigene Rechthaberei ist eigentlich gar keine. Sie ist [...]

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Alte Hosen und leere Marmeladengläser

Von Pablo Picasso wird erzählt, dass er auch kleine Rechnungen – etwa in einem Restaurant – mit Scheck bezahlte. Er rechnete damit, dass die Bedienungen den Scheck nicht einlösen würden, eine signierte Grafik von Picasso! So zahlte er, ohne zu zahlen. Man hatte ihm ein Essen geschenkt!

Es gibt noch eine zweite Geschichte dazu: Als eines Tages seine junge Geliebte Francoise Gilot zwei uralte, ewige Zeiten nicht mehr getragene Hosen des Künstlers wegwarf, kam dieser spätabends strahlend nach Hause: „Stell dir vor, ich habe zwei gute Hosen in der Mülltonne gefunden, was die Leute alles wegwerfen!“. Er hatte sie nicht [...]

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Bond auf der Couch

Gibt es das: den hysterischen Mann?

Aber ja, und James Bond ist einer seiner Prototypen. Er lebt in einer Dauer-Adoleszenz, er wird nie erwachsen. Statt selbst zum Vater zu reifen, scheint er den bärbeissigen M. lebenslang als Vaterersatz zu brauchen. In der Erotik ist er an den Potenzbeweis fixiert. Auch sonst erinnert sein Lebensstil an den Playboy. Nur das Beste ist gut genug und alles, was nicht grossartig ist, ist langweilig.

Die moderne Hysterie, die wir seit Flauberts Roman über Emma Bovary beobachten können, hängt mit unerfüllten narzißtischen Ansprüchen zusammen. Der Hysteriker ist schlecht darauf vorbereitet, sich in der Suche [...]

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Bestrafte Treue

Wenn mein Internetzugang wieder einmal streikt, treffe ich sogleich alle Anstalten für eine Reparatur. Ich rufe meine Tochter Lea an. Sie erkennt schon am Ton meiner Stimme, dass ich vom Netz abgeschnitten bin. Lea ist die Elektronik-Spezialistin der Familie, seit sie noch als Schülerin von einem befreundeten Microsoft-Mitarbeiter die ersten Einweisungen in die DOS-Welt erhalten hat. Sie ist manchmal gestresst. Sie hat unter ihrer Begabung zu leiden, denn sie hat eigentlich einen ganz anderen Beruf und ich bin keineswegs der einzige, der mit solchen Nöten bei ihr Zuflucht sucht. Sicher wünscht sie sich manchmal, blöder zu sein, dann hätte sie [...]

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Hilfe! Eine Kleinigkeit verfolgt mich! (Oder ich sie?)

Heute, in der Schlange bei Penny – ich achte ja nicht so genau darauf, ob die Beträge auch stimmen, aber als bei der Packung mit Birnen „rote Äpfel“ aufleuchtete, sagte ich doch: das waren Birnen! Die Verkäuferin puzzelte an ihrer Tastatur, versuchte vergeblich, die Tüte so in den Scanner zu quetschen, dass er erkennend piepte, gab schließlich einen Code ein. Als sie die Summe nannte, wunderte ich mich kurz, aber ich wollte die Schlange nicht noch einmal aufhalten, zahlte und ging. Zuhause aber griff ich doch nach dem Kassenbon, – und in der Tat: da standen die roten Äpfel, 2.45 [...]

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Das Trauma des Verführers

Nicht nur Gewalt verletzt den Sexualpartner, sondern auch Treulosigkeit. Der bis zur Gewaltbereitschaft eifersüchtige Mann fasziniert manche Frauen, weil sie seine Leidenschaft für ein absolutes Treueversprechen nehmen. Der nach Frauengunst süchtige womanizer der amerikanischen Trivialliteratur kränkt, ähnlich seinem Vorbild Don Juan, die Sehnsucht nach Stabilität und Verläßlichkeit. So sind Erklärungen gefragt, welche dieses Verhalten verständlicher machen und seine sadistischen Züge abschwächen.
Ein aktuelles Beispiel: Hillary Clinton brach Ende Juli 1999 ihr Schweigen über die Affären des damaligen Präsidenten der USA und erklärte, Bill Clinton sei als Kind im Alter von vier Jahren von seiner Mutter und Großmutter mißbraucht worden. Die [...]

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Die Schnellen fressen die Langsamen

Schon seit langer Zeit interessiert mich, was in Organisationen geschieht; ich konnte die Zurückhaltung von Therapeuten nie gutheissen, die nach einem halben Jahr Behandlung immer noch nicht wissen, ob der Beamten-Patient, mit dem sie zu tun haben, nun im höheren oder im gehobenen Dienst arbeitet und was um Himmels willen das eine vom anderen unterscheidet. (Der höhere Dienst erfordert den Akademiker; der gehobene nicht. Einen niederen Dienst gibt es selbstverständlich nirgends…)
Daher verfolge ich aufmerksam, wie es sich für die Mitarbeiter eines Krankenhauses anfühlt, wenn der Träger beschliesst, ihre soziale Heimat umzukrempeln. Fusionen, Ausgliederungen (outsourcing haben vielleicht die Lesern schon [...]

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