Alle Artikel in: Kolumnen

Das Finanzgewölbe

Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank, war es mir, als ob mein Glück unterginge. Mich schauerte, wenn ich dachte, dass ich vielleicht von allem scheiden müsste, von allem, was mir teuer ist. Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen - und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, dass auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken lässt.
So schrieb im Jahr 1800 der als preussischer Offizier und als Student der Mathematik gescheiterte Heinrich von Kleist

Vom Segen des Wartens

Zeit und Abstand als klärende Instanzen im Alltag Es gibt eine orientalische Geschiche „Vom erstaunten Tod“. Der Tod trifft einen Mann, den er irgendwann kennengelernt und mit dem er sich angefreundet hat. Diesem Mann gab eine Stunde zuvor sein Nachbar im Basar in grösster Hast den Schlüssel zu seinem Laden. Er müsse dringend fliehen, sagte der zu dem Mann, er habe soeben den Tod gesehen und reise jetzt nach Samarkand, um ihm zu entgehen. "Ich bin verwirrt", sagt der Tod zu seinem Freund. "Ich habe vor einer Stunde in dem Geschäft neben dem deinen einen Mann sitzen sehen, den ich heute Abend in Samarkand holen soll!" Der psychologische Aspekt an dieser Geschichte hängt mit dem Wiederholungszwang zusammen, den Sigmund Freud als besonders hartnäckige Form des Lernens beschrieben hat.

Das vertrage ich nicht!

Jeder hat sie in seinem Bekanntenkreis: Gäste, die auf eine reich gedeckte Tafel starren als sei sie ein australisches Gewässer voller Sumpfkrokodile. Ist da Weizenmehl drin? Milch? Eine Spur von Nüssen? Erdbeeren? Kiwis? Fisch? Sie haben eine Lebensmittelallergie, sie müssen diese Feinde ihres Wohlergehens rechtzeitig erkennen und unbedingt vermeiden. Schwingt da ein leiser Vorwurf mit, man habe sie eingeladen, ohne vorher ihre speziellen Diät-Bedürfnisse abzufragen? Rund zwanzig Prozent der Deutschen glauben, sie würden allergisch reagieren, wenn sie das Falsche essen.

Da muss man durchgreifen!

Szene beim Ausflug mit dem Fahrrad: Eine kleine Steigung, zwei Frauen und eine Elfjährige mit Schutzhelmen kommen mir entgegen. Abgeschlagen hinter ihnen heulend, mit einem kleinen, vom Weinen geröteten Gesicht ein vielleicht Achtjähriger. Er schluchzt seinen Schmerz und seine Wut hinaus, dass die anderen nicht auf ihn warten und er nicht mithalten kann.
"Da muss man durchgreifen!" sagt ungerührt die eine Frau zur anderen. "Wenn der die Kraft zum Fahren nimmt, die er zum Weinen braucht, haben wir kein Problem mehr!" Wer gemütlich durch die Landschaft radelt, kann sich so seine Gedanken machen.

Von der Energiefront nichts Neues

Es gibt in Deutschland zur Zeit kaum einen Politiker, der sich nicht in die allgemeine Betroffenheit über die Katastrophe in den japanischen Atomkraftwerken einreiht. Es verwundert nicht, dass sich jetzt jene ärgern, die schon gegen die Atomindustrie kämpften, als das noch von eben diesen Politikern als weltferne Spinnerei, Technologiefeindschaft und Raub an einer sicheren Energieversorgung bekämpft wurde. In anderen Ländern sind die Menschen nicht so zimperlich.

Schütt Hormone über mich…

Es ist eine fesselnde Frage, weshalb sich Menschen nicht zufrieden damit geben können, dass sie etwas erleben, sondern gerne wissen wollen, warum sie das tun. Eine erste Antwort fällt leicht: Die Suche nach einer Ursache erleichtert es uns in manchen Fällen, Abhilfe zu schaffen. Wer sich einen Dorn in den Fuß getreten hat, tut gut daran, herauszufinden, warum die Sohle plötzlich schmerzt; so kann er den lästigen Eindringling entfernen. In vielen Fällen aber läuft diese Warumfrage aber quasi hochtourig im Leerlauf.

Amok im Alltag

Am letzten Tag ihres Kurzurlaubs mit ihren zwei schulpflichtigen Töchtern auf einem Reiterhof bei Murnau fuhr die 47jährige Ärztin Dagmar O. auf einem schmalen, zugeparkten Weg von St. Alban am Ammersee in Richtung Riederau. Sie musste anhalten, weil sich vor ihr ein Ehepaar mit Hund ins Auto zwängte. Ein Radler auf einem Montainbike quetschte sich zwischen den Fahrzeugen durch, beschädigte den Außenspiegel an ihrem Wagen und fuhr weiter.

Dagmar O. schrie ihm nach. Der Radler zeigte ihr den Stinkefinger. Ein Passant sagte: „Fahren Sie ihm nach, den kriegen Sie noch.“ Dagmar O. wendete und verfolgte den Radler über fast zwei [...]

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Tage der Manie

Ich wundere mich, dass sich gegenwärtig, in diesen Tagen des Weltmeisterschaftsfiebers, niemand mehr über den Verfall der Skepsis wundert - wo es doch einmal in Deutschland eine ganze "skeptische Generation" gab, frei nach dem Soziologen Helmut Schelsky. Wer sich, wie der Autor, als Entspannungsritual spätabends durch die Fernsehkanäle zappt, der kommt gegenwärtig nicht daran vorbei, Talkshows von Sportfachleuten zu erleben.

Grooming oder Mobbing?

Wer einen psychologischen Grundkurs absolvieren möchte, kann in Vorlesungen gehen oder in den Zoo. Eindrücklicher als im Proseminar wird er am Pavianfelsen belehrt. Hier kann er studieren, wie Primatenmütter ihre Säuglinge zärtlich an sich drücken, aber ihre halberwachsenen Kinder energisch weiterschicken, wenn diese das Hotel Mama beanspruchen.

Du weisst doch genau…!

Es gibt Anekdoten, in denen auf dem Sterbebett das Geheimnis einer Zunft verraten wird, - etwa von jenem Fleischer, der seinem Arzt als Dank für dessen aufmerksame Betreuung das große Metzgergeheimnis ins Ohr flüstert: „Essen Sie niemals Wurst!“ Wenn es ein solches Geheimnis in der Paartherapie gäbe, würde der Satz lauten: „Glauben Sie niemals, dass es nur eine Liebe gibt!“