Autor: W.S.
Auf dem Holzweg
Minenfeld oder Kreidekreis?
Dieser Essay erschien im Juli 18 leicht verändert unter dem Titel „Auf dem Weg zum verlässlichen Bürger“ in der Welt am Sonntag
Ehe der Fall Özil so durchgenudelt ist, dass keiner mehr etwas davon hören kann, sollte doch die Frage gestellt werden: Was können wir daraus lernen?
Als meine Großeltern heirateten, war es ein Skandal, dass sich eine katholische Kaufmannstochter in einen evangelischen Juristen verliebt hatte. Der Jurist musste zusichern, dass die gemeinsamen Kinder katholisch getauft wurden. Sonst drohte der Großmutter die Exkommunikation. Ich selbst habe im katholischen Passau noch eine Predigt gehört, dass Kinder aus „Mischehen“ spätestens in der [...] → weiterlesen.
Weil er es tun kann
Die ersten Schüsse wurden bei dem Massaker in Las Vegas als Teil der Veranstaltung missverstanden – ein Trommelwirbel, der Beginn des Feuerwerks, mit dem solche Festivals oft beendet werden. Viel zu spät bemerkten die Teilnehmer, dass etwas nicht stimmte. Minutenlang schoss der 64 Jahre alte Stephen Paddock aus dem 32. Stockwerk eines Hotels auf Menschen, die tief unter ihm wimmelten. Er konnte aus dieser Entfernung nicht genau zielen, aber das ist bei Maschinengewehrfeuer auch nicht nötig. Manchmal gab es Pausen – er brauchte sie zum Nachladen der Schnellfeuerwaffen.
Zunächst reklamierte die Terrormiliz IS die Tat für sich. Aber Paddock kämpfte [...] → weiterlesen.
Das gebrochene Schweigen
Als Psychoanalytiker bin ich Mitglied eines Berufs und in gewisser Sicht auch einer Bewegung, die dem Schweigen, besonders dem Schweigen in sexuellen Dingen kritisch gegenüber steht. Freud hat von der heilsamen Wirkung der talking cure geschrieben und seine Zeitgenossen herb kritisiert, weil sie die Realität der Erotik und die Gefahren des sexuellen Missbrauchs verleugneten. In einer seiner Vorlesungen an der Clark-Universität („Über Psychoanalyse“, Nr.4) sagte er: Die Menschen sind überhaupt nicht aufrichtig in sexuellen Dingen. Sie zeigen ihre Sexualität nicht frei, sondern tragen eine dicke Oberkleidung aus — Lügengewebe zu ihrer Verhüllung, als ob es schlechtes Wetter gäbe in der [...] → weiterlesen.
Raubbau an der Seele
Der Mensch als Bombe – explosiver Narzissmus
Auszug:
Da Eis nur ein wenig leichter ist als Wasser, sehen wir neun Zehntel eines Eisberges nicht. Die Spitze des Eisbergs ist ein Bild für die erdrückende Übermacht des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren. Sie ist ein Hinweis auf die trügerischen Gewissheiten unserer Wahrnehmung, auf die Illusion, wir hätten mit unserem Blick auf das treibende weiße Gebilde das Wesentliche bereits erfasst und könnten nun daran gehen, ihm auszuweichen.
Die Spitze des Eisberges ist auch eine Metapher für unsere Psyche: nur ein Bruchteil dessen, was sich in ihr abspielt, wird uns bewusst. Wir wissen wenig, ahnen so manches, müssen uns öfter, als [...] → weiterlesen.
Hinter Tugendmasken stecken oft Fanatiker
Mediengesellschaften entwickeln eine dekontextualisierte Ethik, die ich anschaulicher Helikoptermoral nenne. Dekontextualisiert heißt: Werte werden aus dem Zusammenhang gerissen. Sie werden zum Superlativ übersteigert, sobald sich Zweifel melden. Sie spalten den Blick auf die Welt. Statt das Zusammenleben der Menschen angemessen zu regulieren, wird diese Moral zu einem Mittel, einen Sturm der Entrüstung zu entfesseln, die eigene Geltung auf Kosten eines Denunzierten zu steigern und in der Folge Menschen zu zerstören.
Charakteristisch für die Helikoptermoral ist das schnelle, dramatische Urteil, das die klassische Gewaltenteilung völlig ignoriert: Anklage wird Schuldspruch. Ein Beschuldigter verliert Stellung und Ansehen, ehe die Vorwürfe geklärt sind. Die [...] → weiterlesen.
„Komm! ins Offene, Freund!“
Eine neue Unfähigkeit zu trauern?
Wer von dem Berliner Anschlag hörte, dachte wohl zuerst: Jetzt auch bei uns! Obwohl schon im Januar 2016 die Bombe eines Terroristen in Istanbul zehn deutsche Reisende in den Tod riss, war Berlin verschont geblieben, anders als Paris, Brüssel oder Nizza. Was Anlass zu den folgenden Überlegungen gibt, ist der öffentliche Bezug zu den Opfern, der merkwürdig kühl und auch schwächlich erscheint, wenn wir ihn beispielsweise mit den Tagen in Frankreich nach dem Angriff auf Charlie Hebdo vergleichen.
In den Medien dominierte nach der Tat die Frage nach dem Versagen der Geheimdienste und der Polizei, die einem erkannten „Gefährder“ den [...] → weiterlesen.