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Und sowas von müde…

Es ist kein kleines Wunder der Verleugnung, dass die meisten Eltern ihre Babys als „süss“ in Erinnerung behalten und viele Mütter es bedauern, dass Kinder so schnell gross werden. Ich plädiere für ein realistisches Baby-Bild, denn erst dann dürfen wir uns auf angenehme Überraschungen gefasst machen.

Liebe Eltern, erwarten sie ein cholerisches, äusserst reizbares Geschöpf, das sie ohne jeden erkennbaren Anlass in Grund und Boden schreit. Rechnen sie mit ihrem Baby wie mit einem brutalen Chef, dem ihr Wohlergehen vollständig gleichgültig ist und der von ihnen Überstunden fordert, ob sie nun erschöpft sind oder nicht. Gewöhnen sie sich an ein äusserst liebesbedürftiges Gegenüber, von dem sie wenig mehr Zuwendung erwarten dürfen als die schwäbische Ehefrau von ihrem Mann („wenn ich nix sage, passt’s!“).

Neulich sprach ich mit einer Kollegin, die über die Erziehung der Kinder im Dritten Reich forscht. Damals war Johanna Haarer die frührende Ratgeberin. Sie empfahl energisch, Säuglinge schreien zu lassen und sie an regelmässige Stillzeiten zu gewöhnen. Meine Kollegin verband diesen Rat mit dem Bestreben der Nazi-Autorin, die Mütter zur Produktion möglichst viele Babys zu ermutigen.

Bis weit in die fünfziger Jahre hinein hielten sich Eltern an diese Ratschläge; danach setzte sich allmählich die Überzeugung durch, es sei grausam, ein Baby schreien zu lassen. Meine Kollegin, 1948 geboren, erinnerte sich, dass ihre Mutter erzählte, sie habe den Kinderwagen weitab vom Haus in den Garten gestellt, um nicht durch Babygeschrei gestört zu werden. „Neurotischer als meine Patienten, die nach Bedarf gestillt wurden, bin ich wohl auch nicht geworden“, sagte sie.

Wenn es für Erwachsene leicht wäre, ein Kind schreien zu lassen, hätten Sprüche wie „das kräftigt die Lungen!“ niemals Konjunktur gehabt. So scheint es ebenso töricht, die Bereitschaft verbieten zu wollen, ein schreiendes Kind zu trösten, wie umgekehrt, schwere seelische Traumen vorauszusagen, wenn einmal die Eltern schlafen wollen und das Kind schreien lassen. Gefährlich sind nicht die einzelnen Reibereien, sondern ein Perfektionismus, der zu Explosionen von Kränkung und Wut führt, die am Ende gerade jene Babys gefährden, deren Eltern es ganz besonders gut machen wollen.

Erschienen in „Zeitzeichen“, 2007

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