Es gibt zwei Arten von moralischem Schwachsinn. Der eine ist allgemein bekannt und geächtet. Er betrifft die Gewissenlosigkeit des Soziopathen, der ohne Mitgefühl Kinder missbraucht oder Liebe weckt, um besser betrügen zu können. Die zweite Form des moralischen Schwachsinns hingegen verleugnet sich gern. Sie gibt sich manchmal sogar als überlegene Sittenstärke aus. Es ist die Variante des selbstgewissen Tugendboldes. Wo beim Soziopathen die Triebe über Einfühlung und Vernunft triumphieren, ist es beim Normopathen die Moral, mit der er die Vielfalt des Lebens, der Liebe, der Verstrickung und der Lösung erstickt. Wo ihn eine Frage beunruhigt, eine Erscheinung nicht zu seinen Normen passt, wird sie mit einer Moralkeule plattgemacht.
Der Bösewicht wird bestraft, das Opfer gerettet – dieses Muster entspricht den Bedürfnissen der Massenmedien. Wer das nicht bieten kann, wird nicht in die Talkrunde eingeladen. Ich erinnere mich an ein Telefonat mit einem Medienvertreter, der mich in seiner Show nur zu Wort kommen lassen wollte, wenn ich für die freie Liebe und den glücklichen Seitensprung spräche. Einen Treuebefürworter hätte er schon.
An solche steilen Vereinfachungen muss ich denken, wenn ich die Diskussion über die „Pädophilie-Befürworter“ in der grünen Partei betrachte. Ein origineller Politiker wie Daniel Cohn-Bendit wird von Zitaten aus den siebziger Jahren verfolgt wie von Gespenstern. Für den, der sich an diese Zeit und ihre Debatten noch erinnern kann, ging es nur in Splittergruppen um Pädophilie. Im Zentrum stand eine Auseinandersetzung mit einer sexualfeindlichen, homophoben Restauration im konservativ-katholischen Adenauerdeutschland. Wie gut gerade die Pädophilie im Schatten der sexualfeindlichen Moral katholischer Institutionen gedeiht, haben nur die Betroffenen schon immer gewusst. Die Öffentlichkeit beschäftigte sich damit erst sehr viel später.
Aus den damals angestoßenen Diskussionen wuchsen Differenzierungen, die uns heute selbstverständlich sind, damals aber erst erarbeitet werden mussten. Wir machen uns selten klar, wie wenig politische Korrektheit in der Sprache der siebziger Jahren regierte; ich selbst habe in meinen ersten Büchern noch in aller Unschuld etwa von „Negern“ geschrieben. Dem sexualfeindlichen, sich fromm gebenden Muff folgte eine verbale und optische Sexualisierung, die erst allmählich wieder Grenzen ziehen konnte. Der Kapitalismus hat sich von den Kämpfern um erotische Freiheit nicht nur nicht einschüchtern lassen. Im Gegenteil, sie wurden seine nützlichen Idioten, um eine höchst profitable Porno-Industrie aufzubauen.
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