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Die Illusionen über das Gegenüber und die virtuelle Welt

Erzwungene Beziehungen greifen um sich, vom Stalking zur Zwangsverpflichtung des widerspenstigen Vaters

Es ist nicht so, das Liebe manchmal Fehler macht, sondern die Liebe selbst ist ein Fehler. Wir verlieben uns, wenn unsere Phantasie auf eine andere Person die Perfektion projiziert, die sie nicht hat. Eines Tages verschwindet das phantastische Bild, und mit ihm stirbt die Liebe.

So melancholisch hat der 1883 geborene spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinem Essay Über die Liebe die Bindung der höchsten Gefühle an die größten Illusionen kommentiert. Wer manche Verwirrungen der Gegenwart untersucht, kann ihm nur beipflichten. Der liebende Mensch ist dem Menschen das Vertrauteste – und das erschreckend Fremde zugleich. Das liegt an einem Grundsatz unserer Psyche. Es gibt in ihr keine leeren Stellen, wie es einst weiße Flecken auf den Landkarten gab. Wo wir nicht wissen, glauben wir, wo wir nicht sehen, füllen wir mit unserer eigenen Vorstellung alle Lücken, wo das entworfene Bild zurückweicht oder schwindet, halten wir es fest und greifen nach Werkzeugen, es zu erzwingen. Wie füllen ein Gegenüber mit uns selbst, mit dem, was wir für erwünscht, für richtig halten und glauben schließlich an unsere eigenen Projektionen. Wir wissen, wie der Partner oder die Partnerin denkt und fühlt, und wenn sie widersprechen, – dann haben sie eben noch nicht genügend lang die eigenen Gefühle erforscht. Nicht nur Mütter wissen besser, was ihre Kinder fühlen, als diese selbst. Wer erinnert sich nicht an die Filmküsse, in der eine Widerstrebende in den starken Armen des Helden noch eine Weile zappelt und dann doch leidenschaftlich dem erst abgewehrten Ansturm entgegenkommt. Solange solche Illusionen tragen, erleben wir auch kein Problem mit ihnen.

Aber wehe, wenn das nicht mehr der Fall ist! „Ich kann es nicht erzwingen!“ Zu dieser Einsicht zu kommen, scheint immer schwieriger zu werden. Wer eine Erwartung geweckt, tatsächlich oder auch nur in der Phantasie eines der Beteiligten ein Versprechen gegeben hat, wird unter Druck gesetzt, bedroht, verfolgt, verklagt. Es ist, als ob das Tempo unserer Beziehungen sich gesteigert hat. Wir können nicht mehr einfach aussteigen. Wer dahinrast, überlegt es sich zweimal, abzuspringen.

Eine Frau trifft einen Jugendfreund wieder. Er ist inzwischen verheiratet, hat zwei Kinder, ist aber einem Abenteuer nicht abgeneigt. Sie hingegen will ihn ganz für sich. Und angesichts erotischer Wünsche ist die Überzeugung schnell bei der Hand, das Gegenüber wisse ganz genau, in welcher Beziehungskiste beide sitzen. Dann wird sie schwanger. Er will das ganz und gar nicht. Alles soll doch geheim bleiben. Er hat das doch genau erklärt! Seine Ehe soll nicht leiden! Wenn sie unbedingt ein Kind haben muss, gut, er zahlt, aber sonst sind sie geschiedene Leute! Andere Männer würden alles abstreiten, keinen Pfennig hergeben! Jetzt erst wird deutlich, dass sie nicht in einer Kiste saßen, sondern in zweien. Für die Geliebte ist er jetzt ein kläglicher Versager, der sich hinter seiner Ehefrau und seinen Kindern versteckt. So verklagt ihn die Verlassene. Der Staat soll dem Sohn einen Vater erzwingen, wenn dieser die erwarteten Gefühle verweigert! Das Kind muss einen Vater haben, sagt sich die Mutter; der Erzeuger ist verpflichtet, nicht nur zu zahlen, sondern seinen Sohn zu erziehen! Der Prozess geht durch die Instanzen.

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