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Die Zerrissenheit des Migranten und die Sehnsucht nach dem Märtyrertod

Am ersten April 2007 kündigt Cüneyt seine Stelle, meldet sich ordnungsgemäss im Rathaus ab und reist mit seiner Familie über die Türkei in das pakistanische Grenzgebiet. Dort trennt er sich von seiner Frau, die inzwischen ein drittes Kind geboren hat. Am 6.März 2008 meldet die Islamische Jihad Union (IJU) im Internet, dass Cüneyt Ciftci, alias „Saad Ebu Furkan“ einen grossartigen Anschlag verübt habe, „ein tapferer Türke, der aus Deutschland kam und sein Luxusleben gegen das Paradies eintauschte.“ Die Zahl der Opfer gibt die Jihad Union mit 60 an. (Die Amerikaner korrigieren: Vier Tote, viele Verwundete).
Immer sind Störungen des männlichen Selbstgefühls dicht am Selbstmord angesiedelt. Seit Hamlets Monolog über „Sein oder Nichtsein“, in dem es doch auch darum geht, die Kränkbarkeit des eigenen Ich (durch die „Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks“) für immer zu enden, ist der Suizid ein Thema der Selbstreflexion junger, heimatloser Männer.
Der Psychotherapeut begegnet in seiner Arbeit solchen Stimmungen fast täglich; er lernt, dass sie im Grunde wenig bedeuten; viel wichtiger ist es, die Gegenkräfte zu studieren: Die Lust am Leben, die Hoffnung auf eine Besserung der Depression, der Gedanke, den Nahestehenden eine solche Grausamkeit nicht antun zu können, letztlich auch die Unfähigkeit, einen so schwerwiegenden Entschluss alleine zu treffen, verbunden mit der Unmöglichkeit, einen Helfer zu finden, der das verzweifelte Ich in einer solchen Entscheidung bestärkt.
Heinrich von Kleist etwa plante sehr lange, sich zu erschiessen, aber er konnte die Entscheidung nicht alleine treffen und plagte seine Freunde mit seinem Wunsch, gemeinsam in den Tod zu gehen. So überlebte er – bis er eine Vertraute fand, mit der zusammen er diese Entscheidung treffen konnte.
In solchem Zusammentreffen liegt die eigentliche Tücke des Selbstmord-Dschihadismus: Den verzweifelten Individuen, die einen Ausweg aus einer narzisstischen Krise suchen, treten Geisterbeschwörer zur Seite, welche die Entscheidungsunsicherheit, den Selbstzweifel, den Gedanken, das Ideal des Lebens zu verraten rhetorisch nicht nur besänftigen, sondern in ihr Gegenteil verkehren. Der Gedanke des Märtyrertodes in einem heiligen Krieg mit anschliessender Aufnahme ins Paradies passt zu einer narzisstischen Störung wie der Schlüssel zum Schloss.
Sobald wir akzeptieren, dass es sich – ähnlich wie bei der Drogensucht Jugendlicher – um eine moderne Störung handelt, nicht um einen Einbruch rückständiger Traditionen in die Moderne, wird auch einsichtig, weshalb die Türkei und die einstige Sowjetunion als Nährboden solcher Täter erkennbar werden. Trifft dieses Modell zu, werden wir nicht lange warten müssen, bis sie auch im Herzen Europas auftreten.
Stellen wir uns vor, dass wir nur über die Strasse gehen müssen, um eine Gruppe zu finden, welche verspricht, alle Leiden und Spannungen des Lebens durch einen Knopfdruck auszulöschen. Wählen wir diesen ultimativen Kick, dann werden wir nicht nur für immer von allen Schmerzen befreit sein, sondern auch ewigen Ruhm ernten.
In dem Glauben der Selbstmordbomber an den ewigen Ruhm, das ewige Leben verfilzen sich Paradiestradition und Medienwelt. Weil das zu allem entschlossene Ego sich selbst geopfert, den radikalsten Schritt getan hat, triumphiert es über alle Bedenken und Schuldgefühle. Den Attentäter, der seine Tat überlebt, werden die Bilder der Opfer verfolgen. Der Selbstmordattentäter aber hat einen Vorsprung vor den Erynnien gesichert, den niemand einholen kann. Und angesichts der Masse derer, die gegen ihn wüten und ihn so seiner immensen Bedeutung versichern, keimt im Unentschlossenen die Sehnsucht nach der einen, erlösenden, unsterbliche Geltung sichernden Tat.

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