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Vieldeutige Rituale

In der Beschneidungsdebatte sucht ältestes Brauchtum nach Argumenten gegen Justiz und Traumaforschung

Dieser Artikel ist in einer etwas längeren Version im November 2012 in „Psychologie heute“ erschienen.

Bei vielen afrikanischen Völkern ist oder war eine Beschneidung der Mädchen üblich. Ihnen wurden von älteren Frauen Klitoris und Schamlippen amputiert. Bei den Massai werden Männer wie Frauen beschnitten; damit endet auch eine Zeit der freien Sexualität, die den unbeschnittenen, noch nicht menstruierenden Mädchen erlaubt ist. Genitalverstümmelungen bei Frauen gehen in manchen Gruppen noch erheblich weiter. Die Scheide wird zugenäht (Infibulation), nur der Ehemann hat das Recht, dieses Hindernis zu beseitigen.
Die rituellen Genitaloperationen gehören in den betreffenden Kulturen zur sozialen Regulation der Sexualität. Dem modernen Pragmatiker der Humanität erscheint die afrikanische Beschneidung der Mädchen unzumutbar, von einer barbarischen Grausamkeit geprägt, die durch Gesetze und Aufklärungsaktionen bekämpft werden soll.

Ein Kölner Landgericht definierte nun aber 2012 mit klarer Logik jede Beschneidung als Körperverletzung, nur dann rechtlich unbedenklich, wenn sie von einem mündigen Individuum in freier Entscheidung gewollt wird. Dagegen argumentierten die Vertreter des Brauchtums damit, dass Beschneidung „dem Wohl des Kindes“ diene, hygienische Vorteile habe und Männer ohne Vorhaut gerade so gut leben wie mit ihr. Obwohl in Köln keine Strafe verhängt wurde, steigerte sich die Debatte schnell zur Frage, ob Beschneidungen an Kindern „verboten“ werden sollen, was die bisherige Religionsfreiheit verletzt und Erinnerungen an antisemitische Hetze gegen jüdische Rituale weckt.

Beschnittene Männer berichten in Psychotherapien manchmal darüber, dass sie unter dem Gefühl leiden, es sei ihnen ohne ihr Einverständnis etwas weggenommen worden. In der Tat hat die Vorhaut wichtige erotische Funktionen: Sie erleichtert die Penetration und erhält die sexuelle Erregbarkeit. Die Beschneidung hat demgegenüber eine unrühmliche medizinische Vorgeschichte. Routine infant circumcision (RIC) – routinemäßige Neugeborenenbeschneidung – nennt sich die Praxis, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, um die in der prüden viktorianischen Gesellschaft verpönte Selbstbefriedigung zu erschweren. Die Anfänge der „hygienischen“, sexualfeindlichen Beschneidungen liegen in Großbritannien, wo Vorhaut, aber auch Klitoris im 19. Jahrhundert dem Kampf gegen die Masturbation zum Opfer fielen, lange ehe die Ärzte sich an die erste Blinddarmoperation wagten.

Auch in den britischen Kolonien der viktorianischen Zeit, in Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika verbreitete sich die Routine-Beschneidung aus „hygienischen“ Gründen. Sie wurde allerdings bald auf die Knaben begrenzt. Nirgendwo auf der Welt war der Siegeszug so gewaltig wie in den USA, wo vor fünfzig Jahren unter der weißen Bevölkerung Raten von deutlich über 90 Prozent erreicht wurden.
In Großbritannien wurde 1949 beschlossen, dass im staatlichen Gesundheitssystem die Circumcision nicht mehr kostenfrei sei, weil es sich um keine sinnvolle medizinische Maßnahme handle. Seither ist die Zahl der beschnittenen Männer dramatisch gesunken. Auch in den Niederlanden, in Finnland, in Schweden wurde die Beschneidung im Säuglings- oder Kindesalter durch die medizinischen Standesorganisationen abgelehnt. 2010 forderte der kalifornische Ärzteverband, RIC zu beenden.

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