Kolumnen
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Guter Rat ist billig

Wenn jetzt der Vater darauf beharrt, seinem Sohn zu sagen, was richtig ist – und der Sohn umgekehrt den Vater ignoriert oder als Spiesser entwertet, dann scheitert die Beziehung zwischen beiden. Sie haben keinen Raum gefunden, in dem sie die Werte zurückstellen und sich gegenseitig Geschichten erzählen können. Denn einen Punk im Haus zu haben, der aus seinem Leben erzählt, kann sehr interessant sein – ebenso wie es das Leben eines Aufsteigers ist, der sich mit diversen Jobs jenes Studium finanzierte, das der Punk gänzlich unattraktiv findet.
Ein beliebtes Sprichwort behauptet, Kinder seien Gäste, die uns nach dem Weg fragen. Auf die realen Konflikte der Elternschaft bereiten uns solche schönen Sätze wenig vor. Und wenn sie uns gar nicht fragen? Sollen wir mit unserem/ ihrem Weg hinter ihnen herlaufen, wie mit einem vergessenen Pausebrot? Und was passiert, wenn wir den Weg gar nicht wissen? Denn genau das dürfte viel öfter der Fall sein, als wir es uns träumen lassen. Als ich beispielsweise fertig studiert hatte, fürchtete ich mich vor allem vor einem: dass ich zu schnell in eine feste Anstellung geraten könnte. Aus diesem Grund beschloss ich, nach Italien zu gehen und zu schreiben. Angesichts der Probleme meiner Kinder, ihren Platz in der Arbeitswelt zu finden, rate ich eifrig zu festen Anstellungen. Aber ich habe davon im Grunde noch weniger Ahnung als meine Mutter von der Ehe.
Wir alle raten meist nicht, weil wir wirklich besser Bescheid wissen, und sehr häufig sagen wir im Streben nach gutem Rat Dinge, die unser (rat)geschlagenes Opfer längst weiss – etwa dass man mit Magenschmerzen einen Arzt, mit Depressionen einen Psychotherapeuten aufsuchen sollte, dass Rauchen ungesund und ein Übermass an Alkohol schädlich, rote Ampeln, Lehrer und Vorgesetzte zu respektieren sind. „Fahr vorsichtig! Pass auf dich auf! Machs gut!“ Meist ist das Ganze weder inhaltsreich noch gänzlich sinnlos. Vielleicht sollten wir ein soziales Schmiermittel darin sehen, eine gegenseitige, Geborgenheit stiftende Versicherung des banalen Kerns der sozialen Wirklichkeit, der Kultur, des Lebens. Wenn uns aber ein Mensch wichtig ist und uns an einem tieferen Kontakt etwas liegt, dann ist guter Rat nicht mehr so billig. Er kostet ein wenig Einfühlung, Mühe um Kreativität, Verzicht auf das aus der Hüfte geschossene Urteil. Vielleicht sollten wir lieber schweigen, als in die Kiste fertiger Güter zu greifen. Oder warten, bis uns eine Geschichte einfällt.

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