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Wolfgang Schmidbauer & Lea Schmidbauer

Die Illusionen der Protestwähler

leicht gekürzt erschienen in der WamS vom 25.02.24

Die Zeit 06/2024 beschreibt fast liebevoll (Autorin: Elisabeth Raether) einen Berliner Anwalt und Steuerberater, der ankündigt, im Herbst AfD zu wählen und das auf folgende Weise begründet: In Deutschland funktionieren viele Dinge schlecht, die aktuell tätigen Politiker sind unfähig, eine Stimme für die AfD wird ihnen eine Lehre sein, sich mehr anzustrengen. Seine Frau, Zahnärztin, hat in spontaner Wut AfD gewählt, als sie wegen des eklatanten Versagens der Wahlbehörde in Berlin stundenlang Schlange stehen musste, um ihre Stimme abzugeben.

Weder der Steuerberater noch seine Frau gehören zu den Abgehängten und Fremdenfeinden, die manchmal mit den Stimmen für die AfD verknüpft werden. Sie wollen auch nicht, dass die AfD eine Diktatur errichtet, es ist ihnen sogar klar, dass die Politiker dieser Partei gewiss nicht fähiger sind als die etablierten Politiker, deren handwerkliche Fehler sie ärgern. Sie hoffen nur, dass ihre Stimme gegen die „Systemparteien“ diese dazu veranlassen wird, bessere Arbeit zu leisten.

Hinter den vorgebrachten Argumenten steht die Überzeugung, dass sich Menschen durch Vorwürfe „bessern“, also mehr von einem erwünschten Verhalten zeigen. Diese Erwartung der  Protestwähler hat mich beeindruckt, weil ich in meiner Arbeit als Paartherapeut häufig damit beschäftigt bin, Menschen klarzumachen, dass Vorwürfe nicht nur nicht funktionieren. Sie verstärken im Gegenteil das Problem, zu dessen Lösung sie angetreten sind. Ich sage etwa: Wenn Sie ihrem Mann Vorwürfe machen, dass er zu viel arbeitet, wird er noch mehr arbeiten. In seiner Arbeit hat er Erfolgserlebnisse, zuhause nicht. Wenn Sie ihrem Kind sagen, dass das Nachbarskind fleißiger ist und bessere Noten hat, werden seine Noten schlechter.

Vorwürfe sind der erste Einfall angesichts einer Person, die uns enttäuscht, weil wir von ihr Besseres erwartet hätten. Unsere Erwartung ist in Ordnung, sie orientiert sich an dem, was ich in der Situation meines Gegenübers selbstverständlich leisten würde. Nicht in Ordnung ist der oder die Andere. Sie haben versprochen zu funktionieren und haben versagt.

Vorwürfe sind so impulsiv, dass wir in der Regel erst nach dem sogleich in Gedanken vollzogenen Vorwurf überlegen, ob und wie wir ihn äußern. Nicht selten drückt die Äußerung selbst diesen Konflikt aus: Es soll jetzt kein Vorwurf sein, oder nicht, dass ich dir das vorwerfen möchte, sind geläufige Redewendungen. 

Vorwurfsvolle Positionen werden verkleidet (ist nur eine Feststellung, kein Vorwurf) und verleugnet. Sie lassen sich aber schwer vermeiden. Das liegt daran, dass sich ein Mensch, der einem anderen einen Vorwurf macht, im Recht fühlt. Er klagt einen Anspruch ein, dessen Erfüllung die Welt zu einem besseren Ort machen würde.  Er fühlt sich im Besitz eines überlegenen Urteilsvermögens. Selbst wenn er ahnt, dass er auf diesem Weg nicht weiter kommt, fällt es ihm schwer, sich zu stoppen. Er fühlt sich nicht in der Lage, das Vorwurfsverhalten einzustellen, obwohl es keine Früchte trägt. Es gelingt ihm nicht, den eigenen Ärger zu verstehen und herauszufinden, was er tun kann, um seine Situation wirklich zu verbessern. Er findet es unzumutbar, Wut und Enttäuschung zurückzustellen, erlebt es als Erniedrigung und falsche Anpassung, seine Anklagen zu beenden und die Rolle des Opfers fremden Versagens aufzugeben.  

Vorwürfe weichen kritischen Einwänden so wenig wie der Einsicht über den angerichteten Schaden. Das spricht für ihre dem bewussten Erleben wenig zugängliche Wurzel in der Regression auf primitive Seelenzustände. In der sprachlosen Kindheit erfüllt eine Bezugsperson tatsächlich unsere Wünsche, wenn wir nur laut genug unser Missfallen ausdrücken. Das Baby schreit, wenn es Durst hat, eine Kolik, eine nasse Windel. Damals wurde unser Zustand tatsächlich gebessert, wenn wir unser Missfallen mit ihm ausdrückten..

Es ist zunächst nicht einfach zu verstehen, was diese menschliche Ursituation mit den Vorwurfshaltungen zu tun hat, die in der politischen Debatte um sich greifen. Der Gedanke, eine Partei zu wählen, um den mit Realpolitik beschäftigten Parteien einen Schubs zu versetzen, Druck zu machen, dass sich die mit dem Regierungsgeschäft Beauftragten mehr anstrengen, gleicht einem Projekt aus trivialen Romanen: wenn ich den X eifersüchtig mache, indem ich mit dem Y flirte, dann wird sich X mehr um mich bemühen.

Dass wir einen Anspruch auf ein unsere Bedürfnisse befriedigendes Wesen haben und es finden werden, indem wir Frust, Hass und Unzufriedenheit schonungslos ausdrücken, befeuert die Dynamik der Protestparteien. Die positiven Ziele sind diffus und oft sehr widersprüchlich – Trump will Amerika wieder zur großen Wirtschaftsmacht machen, –  mit kleinlichen, dysfunktionalen  Mitteln wie Mauerbau und Importzinsen. Die AfD weiß nicht einmal, ob sie das Abendland retten will oder nur Deutschland. Konkret, vielfältig, originell und dynamisch sind das Geschimpfe, die Häme, der Hass. Protestwähler orientieren sich an dem Mythos der Homöopathie: Wenn ich dem Kranken ein Gift gebe, das die Symptome seiner Krankheit verstärkt, wird er gesund.

Sie wollen nicht wahrhaben, dass es ihre Traum-Politiker nicht gibt. Sie gleichen der Prinzessin, die den Frosch an die Wand wirft und sich dann wundert, dass sie keinen Prinzen bekommt, sondern einen beschädigten Frosch. Vorwürfe verschlechtern den Zustand einer Beziehung. Die Beobachtungen aus der Familientherapie laufen darauf hinaus, dass nicht nur Kinder oder Partner, denen Versagen vorgeworfen wird, künftig schlechter funktionieren, sondern auch die Personen, die selbstgerecht und empathiefrei andere schlecht gemacht haben. Vorwürfe sind, wie der Populismus, kannibalische Veranstaltungen. Indem ich entwerte, was mir nahe steht, entwerte ich mich selbst. Es sind meine Kinder, meine Eltern, meine Partner, in und mit ihnen mache ich auch mich selbst schlecht und werde noch furioser wüten, sobald ich den drohenden Zusammenbruch des Manövers erahne. Der AfD scheint nicht im Geringsten bewusst zu sein, dass sie in ihrem Streben, Gutes für Deutschland zu erreichen, zwei Drittel der Deutschen mit Spott und Häme überzieht.

Noch eine letzte Beobachtung aus der Paaranalyse lässt sich auf die politische Dimension anwenden: Wenn zwei Personen aufeinander treffen, von denen eine bisher abwägend und konstruktiv mit ihren Beziehungen umgegangen ist, sollten wir nicht erwarten, dass sie ein Gegenüber, das angesichts einer Enttäuschung vorwurfvoll wütet, zur Besinnung bringen wird. Wo einer primitiv und gierig wird, fühlt sich der sonst Besonnene im Nachteil, wenn er nicht mit gleichen Waffen zurückschlägt. Die Trump’sche Verelendung der republikanischen Partei hat die Demokraten gewiss nicht besser oder stärker gemacht. Es gibt Studien, wonach die Gesprächskultur im deutschen Parlament nicht nur durch die Ausfälle der AfD, sondern auch durch eine Art Ansteckung der anderen Parteien erheblich gelitten hat. Psychologisch ist das zu erwarten: Da wir alle die Fähigkeit zum Hass in uns tragen und es uns Mühe kostet, ihr zu widerstehen, ergibt sich schnell eine Situation, in der nicht der Differenzierte und Empathische den Gegner auf seine Stufe hebt, sondern beide einander überzeugen, sie könnten bessere Menschen schaffen, indem sie die realen entwerten.

Das Verhältnis von Deutung und Amplifikation

Zusammenfassung: Die klassische Deutung sucht Unbewusstes in Bewusstes zu übersetzen. Sie riskiert, analytische Macht zu demonstrieren und kann Patienten dazu verführen, eine rationalisierende Abwehr neu zu strukturieren oder an einer Opferrolle festzuhalten. Verglichen damit ist das eher narrative Vorgehen, das C.G. Jung als Amplifikation beschrieben hat, wärmer und offener. Es regt an, selbst weiter zu forschen und sich von der Enge einer richtigen oder falschen Interpretation zu befreien.

Ich habe einige Patienten, mit denen ich gerne und nach gemeinsamem Urteil auch erfolgreich arbeite, aber nicht ganz umhin kann, mich gelegentlich zu fragen: Was machen wir da eigentlich?

Angesichts der Einladung, als Analytiker zu Jungianern zu sprechen, ist mir Jungs Begriff der Amplifikation eingefallen. Er scheint mir hilfreich, diese Frage zu beantworten, während meine Frage nach dem Eigentlichen damit zusammenhängt, dass in den Behandlungen, die mir in den Kopf kamen, eher selten gedeutet wird, wo doch die Deutung das therapeutische Werkzeug des Analytikers schlechthin ist. Aber es gibt auch keine Ratschläge oder Anleitung, bestimmte Dinge zu üben.
Das liegt zum Teil auch daran, dass diese Patienten schon älter sind und in ihrem Alltag eher anderen Rat und Hilfe anbieten. Die meisten sind erfolgreiche Fachärzte. Einige waren körperlich krank und medizinisch austherapiert; sie beschrieben eloquent ihre Symptome und das Versagen der bisherigen Versuche, ihnen zu helfen. Andere waren durch eine schwierige Ehe belastet. Sie versorgten mich mit Diagnosen über eine narzisstisch gestörte oder auf Borderline-Niveau funktionierende Partnerin, die sich trotz großer Bemühungen, sie zu mäßigen und die dramatischsten Folgen ihrer Störung abzupuffern, von ihnen trennen wolle. Es schien, als hätten sie zwei Wünsche, ohne recht daran zu glauben, dass diese realisierbar wären: von mir unterstützt der Partnerin einerseits zur Normalität zu verhelfen, anderseits zu verhindern, dass sie verloren ginge. Beide Wünsche standen einander im Weg, denn die Partnerin konnte die ständigen Versuche, sie zu kontrollieren und von oben herunter zu normalisieren nicht ertragen, zog sich also gerade vor dem engagierten Versuch zurück, sie näher und „besser“ zu binden.

Diese Patienten sprachen nicht nur viel, sie taten es auch in einer Weise, die mir die Rolle eines Zuhörers zuwies und nur selten eine Aktion ermöglichte, die ich klar mit der üblichen Rolle des Therapeuten verbinden konnte. Vor ein paar Tagen war einer von ihnen nach langer Pause wieder da. Er hätte mir sicher die anderthalb Stunden, die abgemacht waren,  nur von dem Segeltörn erzählt, der ihn letztes Jahr drei Monate durch die Ostsee führte, wenn ich ihn nicht nach der Hälfte der Zeit unterbrochen und nach seinem behinderten Sohn gefragt hätte, der ihm große Sorgen macht.

Nach den ersten Sitzungen mit ihm, die inzwischen vielleicht zehn Jahre zurückliegen, forschte ich nach der Bedeutung des lateinischen Wortes Suada, das mir spontan eingefallen war. Suada heißt Redefluss und geht auf eine römische Göttin der Beredsamkeit zurück, die auf sanfte Weise dominiert, indem sie Einwände nicht laut werden lässt. Er führte eine große Praxis in einer anderthalb Fahrstunden entfernten Stadt und konnte nur alle 14 Tage kommen. Aber die Stunden schienen ihm zu helfen, obwohl ich nicht wusste, wodurch, denn er redete fast die ganze Zeit, sprach über Musik, Kunst, seine Kollegen in einen MVZ, die ihn ausnützten, über Frauen, die ihn einengten, über seinen Sohn, den er zuerst nicht wollte und dann doch, und obwohl die Beziehung zur Mutter schnell gescheitert war, als das Beste pries, das ihm jemals passiert sei. Ich sah keinen Weg, Widerstands- oder Übertragungsdeutungen anzubringen, ließ mich belehren, und begann eigene Erzählungen und Beobachtungen einzuflechten.

Es ist unvermeidlich, dass der Analytiker von solchen Patienten sehr ambivalent erlebt wird, droht er doch die Helfer-Rolle in Frage zu stellen, deren fiktive Sicherheit – abhängig sind immer die anderen –  ein wesentlicher Bestandteil der manischen Abwehr ist, die zu Beginn solcher Behandlungen im Vordergrund steht.
Das führt dazu, dass diese Patienten zwar sichtlich leiden, aber kaum zu bewegen sind, über ihr als Schwäche und Versagen erlebtes Leid zu sprechen. Statt dessen versuchen sie, mit dem Therapeuten zu plaudern, fragen ihn nach seinem Beruf und wie er beispielsweise das Medizinsystem oder die aktuelle Politik beurteilt, berichten von einem tollen Konzert oder einem abenteuerlichen Urlaub, erzählen Erfolgsgeschichten.

Was mir in dieser schwierigen Situation wohl geholfen hat, ist meine eigene ironische Distanz zu meiner Rolle als Helfer, die darin wurzelt, dass ich mich  als Schriftsteller verstehe, der auch Analytiker ist. Es machte mir also weniger Probleme als vielen Kollegen, die ich in Intervisionen über solche Patienten seufzen hörte, mir erst einmal die Helferrolle weitgehend wegnehmen zu lassen und zuzusehen, wie diese zugleich starken und empfindlichen Männer ihren inneren Zustand vor mir ausbreiteten.
Ich hörte ihnen zu und lernte im Lauf der Jahre immer besser, eine Rolle zu ertragen, in der ich nur ausnahmsweise mein therapeutisch- deutendes Handwerkszeug zur Hand nehmen durfte, während die andere Zeit dazu diente, mit dem Patienten zu plaudern, an seinem Leben und an seinen Urteilen über sich selbst und andere Personen teilzunehmen, gelegentlich einen eigenen, ergänzenden, zum Narrativ des Patienten passenden Einfall beizusteuern, immer wieder auch Anerkennung für die Ideen und die Lebensleistung der Patienten einzuflechten und geduldig auf die Gelegenheit zu warten, mich mit einem therapeutischen Gedanken einzumischen.

Manchmal bin ich bei Kollegen und auch bei Supervisanden einer abschätzigen Haltung gegenüber diesem Plaudern mit Patienten begegnet. Sie verstanden nicht, warum ich mich nicht über solche Manöver ärgere, die doch meine Entfaltung als Therapeut behindern, und mochten nicht glauben, dass ich das Zusammensein mit Patienten, die ihren Narzissmus so entfalten, durchaus genieße und mit ihnen über die in solchem Kontext möglichen Scherze lache. In der Tat widerspricht etwas, was man durchaus als gemeinsamen Genuss eines Widerstandes ansehen könnte, auch Greensons Standardwerk über Technik und Praxis der Psychoanalyse. Dort steht:

„Im großen Ganzen ist die analytische Arbeit ernst. Sie ist vielleicht nicht immer abscheulich oder elend, und nicht jede Stunde ist deprimierend oder schmerzlich, aber im allgemeinen ist sie, um das mindeste zu sagen, von harter Arbeit erfüllt.“[1]
Nun, in der Tat ist Therapie Arbeit, man verabredet sich für eine bestimmte Zeit, muss pünktlich kommen, verlässlich bleiben und verbringt diese in gegenseitiger Aufmerksamkeit. Aber die Adjektive „ernst“ und „hart“ stelle ich in Frage, denn es geht im Kern um Freiheit, um Kreativität und Phantasie. Einer der erwähnten Patienten arbeitete als Chefarzt; seine leitende Assistentin hatte ebenfalls eine Analyse absolviert und wunderte sich laut, dass er so entspannt aus den Sitzungen mit mir käme, denn sie sei nach ihren Stunden oft völlig fertig gewesen, weil die Therapeutin sie habe hängen lassen und keine ihrer Fragen beantwortete. Mein Patient erklärte, das habe er bei mir noch nie erlebt, sein Therapeut würde mit ihm ein ganz normales Gespräch führen, jeder steuere etwas bei.

Als er mir davon erzählte, sagte er sinngemäß: Sie hat angedeutet, dass das bei Ihnen keine richtige Analyse ist, aber ich muss Ihnen sagen, wenn Sie so mit mir umgehen würden wie es M. erzählt, wäre ich keine Stunde geblieben.
Kann es sein, dass manche Analytiker die Bibel zu ernst nehmen, in der harte, ernste Arbeit die Strafe für  den Verlust des  Paradieses ist? Wer da nicht Dornen und Disteln jätet im Schweiße seines Angesichts, kann kein guter Analytiker sein?
Ich finde, als Autor wie als Analytiker, dass Arbeit am besten dann gelingt, wenn sie nicht hart und ernst ist, sondern selbstvergessen der eigenen Inspiration gehorcht. Ich fühle Freud auf meiner Seite, dessen Behandlungszimmer mit seinen ehrwürdigen Spielzeugen angefüllt war und dessen Deutungen oft die schönsten Amplifikationen enthielten, etwa als er die amerikanische Dichterin Hilda Doolittle mit seiner Bronzestatuette von Pallas Athene tröstete: Sie ist wunderschön, aber sie hat ihren Speer verloren.

Man wird dem plaudernden Analytiker unterstellen, dass er es sich leicht macht und vor dem Widerstand des Patienten zurückweicht, den dessen manische Abwehr aufrichtet. Ich sage dann manchmal ironisch, dass die schlechteste Intervention, die den therapeutischen Prozess aufrecht erhält, doch besser ist als die beste, welche ihn unterbricht. Aber kann ich den Verdacht entkräften, dass in diesen vorwiegend plaudernd verbrachten Sitzungen überhaupt ein therapeutischer Prozess stattfindet? In den beschriebenen Behandlungen habe ich eine wachsende Stabilisierung, das Zurücktreten von Depressionen und eine insgesamt bessere Lebensbewältigung beobachtet. Zudem schätze ich die Patienten durchaus so ein, dass sie ihre Zeit und manchmal auch ihr Geld nicht mehr opfern, wenn sie nicht von der Behandlung profitieren.

Wie gut sind nun aber meine Gründe, solche Behandlungen als Argument für den Wert der Amplifikation gegenüber dem der Deutung einzuführen?
Amplifikation und Interpretation sind in ihren ursprünglichen Bedeutungen „Vermehrung“ gegenüber „Deutung, Übersetzung“. Was es heißt, einen Text aus einer Sprache in eine andere zu übersetzen, ist leicht zu verstehen: Je tüchtiger der Philologe dabei vorgeht, desto genauer werden sich Sinn und Form des Originals in der Übersetzung wiederfinden lassen. Aber die Deutung? Hier müssen wir weiter ausholen.

Nach einer griechischen Anekdote biss Alkibiades, als er in einem Ringkampf zu unterliegen drohte, seinen Gegner so kräftig, dass dieser losließ und schrie: „Du kämpfst wie ein Weib!“  „Nein, wie ein Löwe“, entgegnete Alkibiades.
Seine Antwort belegt eine elementare Form von Deutung. Durch einen zweiten Begriff, der zu einem ersten in ein Spannungsverhältnis tritt, wird eine Situation neu bewertet. Der Löwe ist ein starkes, königliches Tier, dem man nicht unterstellen kann, dass er aus Not zu unfairen Mitteln greift. Zu beißen, ist seine Natur, ein Ausdruck seiner Macht. Indem sich Alkibiades mit dem Löwen vergleicht, macht er aus seinem Notbehelf eine Stärke und besiegt den Gegner durch eine neue Form oraler Aggression – Schlagfertigkeit mit Worten – ein zweites Mal. Die von ihm gegebene Deutung seiner Tat setzt diese mit anderen Mitteln fort. Wir erkennen in diesem Handeln wie in dem von Alkibades gefundenen Vergleich etwas Drittes: schrankenlosen Ehrgeiz, heftige Angst, nicht zu siegen, Wahllosigkeit der Mittel, wenn er in Bedrängnis ist, Schlagfertigkeit und Kampfgeist. Wenn wir so argumentieren, haben wir Alkibiades‘ Deutung, wie ein Löwe, nicht wie ein Weib zu beißen, noch einmal gedeutet.
Deutungen hängen also mit einem Widerspruch zusammen: Alkibiades widerspricht seinem Gegner, und wir müssten vielleicht Alkibiades  widersprechen, der unsere Deutung seiner Rücksichtslosigkeit und seines Ehrgeizes vielleicht ablehnen würde: was da aus seiner unschuldigen Bemerkung gemacht wird! Deutungen finden sich an Grenzen zwischen semantischen Feldern; sie versuchen, das zu erfassen, was sich in einem anderen Feld bewegt, aber ohne den Deutungskunstgriff nicht genügend gut eingeordnet werden kann.

„Einen Traum deuten heißt, seinen Sinn angeben, ihn durch etwas ersetzen, was sich als vollwichtiges, gleichwertiges Glied in die Verkettung unserer seelischen Aktionen einfügt“, sagt Freud in der „Traumdeutung“. Alkibiades kann nicht einordnen, dass er ein Weib sein soll, denn er bewegt sich in einem sozialen Feld, wo Weiber verächtlicher sind als Männer, wenn es um Kampf geht. In diesem Feld ist Aggression den Männern vorbehalten. Frauen werden geschmäht, wenn sie sich mit körperlicher Gewalt durchsetzen, sie stehen für mangelnde Fairness.
Aus diesem Gründen ist es auch unmöglich, bei zwei konkurrierenden Deutungen – beißt Alkibiades wie ein Weib oder wie ein Löwe? – eine Entscheidung zu treffen, welche nun gilt. Das unterscheidet Deutungen von Übersetzungen. 
Alkibiades bricht aus dem semantischen Kontext der Ringkampfregeln aus. Dadurch entsteht eine ungeordnete Situation; da kein Kampfgericht vorhanden ist, das den Regelverstoß ahndet, müssen die Kontrahenten selbst versuchen, seine Tat einzuordnen. Dabei wird erkennbar, dass der semantische Kontext feldabhängig ist: im Wahrnehmungsfeld des Gegners wirken andere Kräfte als im Wahrnehmungsfeld von Alkibiades. Diese Merkmale lassen sich sehr häufig nachweisen, wenn gedeutet wird.

In der Antike berichteten Reisende, die an fremden Küsten landeten, die dortigen Bewohner würden – ein Beispiel – zu Artemis und Herakles beten, diese Gottheiten aber mit fremdartigen, nur ihnen eigentümlichen Namen benennen. Ein Missionar monotheistischer – christlicher oder islamischer – Prägung würde in den fremden Numina nur Götzen, Inkarnationen des Satans erkennen. Er lebt in einem anderen semantischen  Feld als der polytheistisch erzogene Römer oder Hellene.
So gesehen, rufen alle Spuren alter Religionen, die unter einem neuen Glauben fortbestehen, nach Deutungen, denn es ist eine Spannung zwischen dem alten Glauben und der gegenwärtigen Situation entstanden. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass durch den zweizeitigen Ansatz der menschlichen Sexualentwicklung mit Frühphase und Latenz kindliche Leidenschaften in einem anderen semantischen Feld angesiedelt sind als das, was der Erwachsene erlebt. Die Deutung rekonstruiert, wie die Kindheit im Unbewußten fortwirkt, um Symptome Erwachsener zu verstehen und so einen Neuanfang, eine Nachreifung der Persönlichkeit zu ermöglichen.

Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts wurde ein Teil der Psychologen immer stärker durch Maß und Zahl fasziniert und strebte die Quantifizierung hochspezialisierter Fragestellungen mit häufig geringer praktischer Relevanz an. Andere – ihr Pionier ist Freud – entdeckten die Vor-Geschichte der historischen Überlieferung, den Mythos. Individuelle Beobachtungen, wie die erotische Vaterbindung einer hysterischen Patientin, wurden mit einem Begriff wie „Ödipus-Komplex“ zu einem mythologischen Thema gemacht.
Der Mythos ist eine Urgeschichte, eine Erzählung, die zunächst dazu dient, etwas zu erklären – einen Ortsnamen, einen Brauch, eine Abstammung. In dieser Erklärung drückt sich sehr häufig auch eine Freude an der poetischen Darstellung existenzieller Grundprobleme aus. Um diese poetische Darstellung der menschlichen Existenz ging es auch den praktisch-klinischen Richtungen der Psychologie. Von einem Arzt begründet und von Ärzten einerseits, Geisteswissenschaftlern anderseits viel gründlicher aufgenommen als von der akademischen Psychologie, hing und hängt dieser psychologischen Richtung die mangelnde Klarheit über denen eigenen wissenschaftlichen Standort nach.

Einerseits zwingt die ärztliche Tätigkeit in der dauernden Begegnung mit unsicheren, leidenden, in ihrem Lebenswillen verletzten Menschen den Helfer zu einem hohen Maß an Festigkeit und Sicherheit, die er immer aus dem größten Prestige nimmt, das ihm seine Zeit zur Verfügung stellt. Das war seit 1900 bis heute die exakte Naturwissenschaft, die den Ärzten ein sicheres Fundament auf Physik und Chemie, Anatomie und Pathophysiologie versprach. Diese Methode glaubte Freud noch anzuwenden, als er sich längst in einer genialen Regressionsbewegung im Bereich des Mythos bewegte. Warum sollte er auch anders denken? Er zeichnete Beobachtungen auf, und wertete sie aus. Wenn ihm sein Sprachverständnis das Mikroskop, seine Notizen die Fotografie, seine Deutung die mathematische Auswertung oder die anatomische Darstellung ersetzten, lag es für ihn gewiss nicht daran, dass er weniger ernsthaft um die Deutung seiner Träume bemüht war als um die Funktionen der Organe des Aals, welchen er in seiner medizinischen Dissertation untersucht hatte. Aber ohne die mathematische Kontrolle und ohne die Möglichkeit, ein anatomisches Substrat, eine Struktur unter den beobachteten Erlebnissen festzuhalten, wurde bald klar, dass es nicht eine einzige richtige Deutung gab, sondern eine viel größere Anzahl, eine potentiell unendlich große Deutungsmenge.

So berührt die psychoanalytische Wahrheitsfindung die künstlerischen Lösungsmöglichkeiten: Angesichts einer strukturell umgrenzten Aufgabe – zum Beispiel eine Madonna mit dem Jesusknaben zu malen – gibt es doch eine unerschöpfliche Menge von Lösungen, wie dieses Bild gestaltet werden soll. Immer werden eine Frau und ein Kind darauf zu sehen sein, doch wie sie sich zueinander verhalten, was sie durch ihre Kleidung, ihre Körperhaltung und Mimik ausdrücken, das lässt unendlich viele Möglichkeiten der Gestaltung zu, und jede dieser Gestaltungen kann noch einmal von unterschiedlicher Qualität sein.
Freuds Konzept einer Analogie zwischen der mehrfachen Determination in der Entstehung seelischer Phänomene – etwa eines Traums – und der „Überdeutung“, d.h. der Ansammlung einander ergänzender, lediglich auf den ersten Blick vielleicht widerspruchsvoller Deutungen ist ein Versuch, aus diesem Dilemma zu entrinnen. Die Determination des Seelischen reicht in eine unergründliche Tiefe, der eine unendliche Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten entspricht. Aber es erscheint mir plausibel, davon auszugehen, dass ein Traum oder ein Symptom tatsächlich auf einer endlichen Menge von Bedingungen beruhen, während die Zahl der möglichen Deutungen dieses Traumes oder dieses Symptoms unendlich ist.

Diese verwickelte Situation hängt damit zusammen, dass das Gedeutete eines ist – ein Mensch, ein Ausschnitt aus der Lebensgeschichte dieses Menschen, eine bestimmte biographische Entscheidung, ein Traum, ein Symptom – während die Deuter potentiell unendlich viele sind; einer nach dem anderen kann die gedeutete Szene aufgreifen und eine bisher noch nicht entdeckte Bedeutung entdecken. Solche Prozesse sind in der Psychoanalyse durchaus abgelaufen; beispielsweise wurden Breuers und Freuds Krankengeschichten mehrfach neu interpretiert und aus Anna O. eine Psychose-Patientin gemacht, die Breuers Ich-Identität attackierte, oder aus Emmy von N. ein Borderline-Fall.

Die analytische Deutung ist eng mit einem zentralen Element der menschlichen Existenz verbunden: der Sehnsucht nach Wahrheit. Diese Sehnsucht ist in vielen Fällen unerfüllbar, aber auch in diesen ist, wie es die Denker aller Zeiten betont haben, eine Bewegung möglich: etwas weniger Dunkelheit, etwas mehr Licht. Jede einzelne Deutung strebt danach, diesem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Ob ihr das gelingt und sie nicht in Wahrheit sich davon wieder weiter entfernt, das ist die zentrale wissenschaftliche Frage, unter der die primär künstlerisch entworfene Deutung geprüft werden muss.
Jede vom Patienten angenommene Deutung ist auch eine Amplifikation in dem Sinn, dass sie sein Erleben bereichert. Allerdings dürfen wir nicht übersehen, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, in der Wettbewerb um und Neid auf die Rolle des durch Wissen Überlegenen früh vermittelt und nachhaltig verstärkt werden. „Ich weiß es besser“ ist ein Triumphgefühl, das in zwölf Schuljahren aufgebaut wird und im Repertoire des beruflich erfolgreichen Professionellen einen wichtigen Platz einnimmt.
Wie mühevoll und kränkend für die Beteiligten die fehlende Distanz zur besserwisserischen Qualität von Deutungen werden kann, zeigt ein Buch der Autorin (und Ausbildungskandidatin) Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit. Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche Psychoanalyse.[2]

Wenn ein Patient die erwähnte manische Abwehr in die Therapie mitbringt, wird er erst einmal große Mühe haben, ein anderes Verständnis seiner Probleme als das eigene zuzulassen, denn wer soll sie besser verstehen als er, dem sie am wichtigsten sind und der über die meisten Informationen verfügt? Anschaulich war für mich in diesem Punkt eine meiner ersten Analysen. Mein Patient war ein schwer depressiver Gymnasiallehrer, der nach einer gescheiterten Ehe mit Suizidgedanken Hilfe suchte. Anfangs hatte ich große Schwierigkeiten, weil er immer wieder in einen Redeschwall verfiel, in dem er sich selbst glorifizierte und ohne Punkt und Komma berichtete, was er alles besser gemacht habe als andere.

In der Supervision entdeckten wir, dass das geschah, wenn er sich durch eine Deutung in Frage gestellt fühlte. Allmählich lernte ich, mich in seiner so hoch kränkbaren inneren Welt zurecht zu finden und entsprechen vorsichtig alle Begriffe zu meiden, die er als Schwäche, Fehler, Makel auffassen hätte können.
Nach zwei Jahren einer Analyse, in der wir seine zwanghafte Abwehr und die biographischen Hintergründe seiner panischen Angst untersuchten, verlassen zu werden, sagte er in der letzten Stunde sinngemäß: Es geht mir besser, vielen Dank, aber etwas wirklich Neues habe ich in der Analyse nicht erfahren. Das bedeutete: Wenn es etwas Neues über mich zu entdecken gibt, bin ich auf jeden Fall der erste, der es findet.

Ich wusste damals noch etwas weniger über Narzissmus als heute und war dementsprechend etwas mehr gekränkt, habe aber dem Oberstudienrat – das war er wirklich – gerne verziehen, denn er hat mir doch eine sprechende Geschichte hinterlassen. Vielleicht hatte er auch etwas von meinem therapeutischen Ehrgeiz mitbekommen und darauf reagiert.

Nach Abschluss meiner Ausbildung lernte ich anlässlich seines Besuchs in München Heinz Kohut kennen. Ich erzählte ihm von meinen Forschungen[3] über den Ausdruck von Größenphantasien, Spaltungen und narzisstischen Dramen von Erhöhung und  Erniedrigung in Heldensagen und trivialen Romanen. In Erinnerung geblieben ist mir seine Begeisterung für den Narzissmus als schöpferische Kraft, eine sozusagen aktive Anerkennung, die ich heute in Kontrast zu der eher defensiven Haltung der Supervisorin meines ersten Patienten sehe. Sie half mir zwar, die narzisstischen Widerstände des Patienten zu verstehen, vermittelte mir aber nicht, dass narzisstische Phantasien interessant sind und es durchaus möglich ist, ihnen mit Wohlwollen und Humor zu begegnen.

Sicher setzt sich meine gegenwärtige Haltung im Umgang mit narzisstisch belasteten Patienten aus mehr Komponenten zusammen als aus den drei hier erwähnten: der Supervision meines ersten Patienten, der Bewunderung für Heinz Kohut und meiner Forschung über die Helden der trivialen Literatur, aber diese drei scheinen mir die prägnantesten. Sie haben dazu geführt, dass ich, wenn ich mich mit den Mitgliedern meiner Intervisionsgruppe vergleiche, länger neugierig bleibe, wie solche Störungen aufgebaut sind und warum die Menschen, die unter ihnen leiden, so wenig dagegen tun können, Äste abzusägen, auf denen sie doch gerne Halt fänden.

Die Patienten, von denen ich anfangs gesprochen habe, würden die Therapie verlassen, wenn ein Analytiker ihnen ihre manische Abwehr als Widerstand deutet. Und doch können sie im Lauf der wertschätzenden Gespräche – was ein vornehmerer Ausdruck für Plaudern ist – sich dem Gedanken nähern, dass ihr eigenes Verhalten zu ihren Problemen beiträgt. Wenn sie  gelegentlich, unaufgefordert, auch Geschichten über ihre Kindheit und Jugend, über Spannungen mit Geschwistern und Eltern erzählt haben, trägt das dazu bei, dass sie mehr Abstand gewinnen. Ein Beispiel:
Der 62jährige ist hochbegabt. Er spielt mehrere Instrumente und tritt mit Berufsmusikern auf, spricht perfekt die Sprache seiner Partnerin, die er im Ausland kennen gelernt hat. Er arbeitete lange erfolgreich und erkrankte an einem Autoimmunleiden, das ihn vor zehn Jahren in eine niederfrequente analytische Therapie führte. Die Stunden verlaufen fast immer so, dass er in einem Redeschwall, unterbrochen von stoßweisem Gelächter und ganz ohne Zeichen von Angst, Trauer oder Schmerz über seine Symptome, die problematische Geschichte seiner Eltern, die Unzulänglichkeiten der Krankenversorgung, die Ausübung professioneller und semiprofessioneller Musik, seine Sammlung von Musikinstrumenten, die sozialen Probleme im Herkunftsland seiner Frau und ähnliche Themen spricht. Wenn mir etwas zu seiner Erzählung einfällt, trage ich zu ihr bei, meistens weiß ich weniger als er und lasse mich belehren.

Manchmal ergeben sich kleine Diskussionen. Ich erinnere mich an eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich des Übens in der Musik und des Trainings im Sport. Er vertrat die Überzeugung, dass man nur weiterkommt, wenn man Schmerzgrenzen überschreitet; ich sagte, das Wichtigste sei doch die Freude am Üben und dass man umso lieber übe, je besser man die Tätigkeit beherrsche. Ich glaube nicht, dass ich ihn überzeugen konnte.

Einen Konflikt gab es, als ich zu explizit die psychosomatische Komponente in seiner Erkrankung betonte. Er fühlte sich nicht ernst genommen und schrieb mir eine lange mail mit Quellenangaben, wie hilflos behindert Kranke bei einem ungünstigen Verlauf dieses Leidens seien. Als ich mein Bedauern über meine Äußerung ausdrückte, schien er nichts davon wissen zu wollen und kehrte zu dem vertrauten Muster der Stunden zurück. Anfangs zahlte seine private Krankenkasse; inzwischen vereinbaren wir eine Sitzung pro Monat, auf die er Wert legt. In den Jahren der Zusammenarbeit ist die Grunderkrankung nicht fortgeschritten. Ich zögere, die Therapie als einen Faktor zu beurteilen, der das begünstigt hat, aber ich fürchte doch, dass es riskant sein könnte, die Behandlung zu beenden.

In der letzten Sitzung hatte ich den Eindruck, sozusagen mehr Therapie als sonst gemacht zu haben. Der Patient schilderte Beziehungsprobleme seines Sohnes, der zwei Tage lang geweint habe, und drückte seinen Respekt davor aus, dass dieser eine Entscheidung getroffen habe und jetzt mit einer Frau zusammen sei, die ihn besser behandle. Ich sagte, es sei doch ein großes Kompliment, dass der Sohn mit ihm gesprochen und sich unterstützen habe lassen. Dann wechselte der Patient zu den Weihnachtstagen und dem Besuch seines älteren Bruders, zu dem er keinen Kontakt gefunden habe. Seine beiden Geschwister und die verwitwete Mutter hätten auf eine für ihn kaum erträgliche Weise alles geleugnet, was irgendwie nach Problemen aussah, und sich selbst glorifiziert. Er habe das kaum ausgehalten, aber auch nicht gewusst, was er dagegen tun könne.
Ich sagte, es sei vielleicht wie beim Bordorchester der Titanic. Womöglich könne man nicht mehr tun, als der Musik zuzuhören und zu bewundern, wie tapfer die Musiker angesichts der Gefahr weitermachen. Er lachte und sagte dann: früher war ich genau so, die ganze Zeit. Wir verabredeten uns zur gewohnten Zeit in vier Wochen. „Sehr gerne!“ sagte er und ging.

An dem Begriff der Amplifikation gefällt mir, dass es darum geht, etwas zu vermehren. Das ist an sich nichts Besonderes. Menschen sind soziale Tiere und finden eine animalische Befriedigung darin, nicht allein zu sein. Kinder und Hunde laufen gewöhnlich aufeinander zu, wenn sie im freien Feld ihresgleichen begegnen. Erwachsene sind komplizierter, parallel zur Differenzierung ihrer Kultur, denn in einer von sozialen Unterschieden geprägten Welt sind Begegnungen nicht mehr naiv in dem Sinn, dass man aufeinander zuläuft und sich beschnuppert, sondern Vorstellungen abarbeitet, wie viel Nähe für beide Seiten zuträglich ist.

Auch in der therapeutischen Situation funktioniert diese grundsätzliche Bereicherung. Man könnte zugespitzt sagen: die Amplifikation geht der Übertragung voraus, das Gefühl, gut für einander zu sein, sich wechselseitig bereichern  zu können, schafft die Grundlage für das Arbeitsbündnis. Bei narzisstisch belasteten Menschen, die gewöhnt sind, als Arzt, Lehrer, Manager respektiert zu werden und ihre soziale Umwelt zu kontrollieren, kann die klassische Deutung der manischen Abwehr als Widerstand nicht funktionieren. Es geht dann darum, dem Patienten ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Wenn ich die Unterscheidung von kaltem und warmem Denken[4] hier einführe: die Deutung eines Widerstandes nähert sich dem kalten Pol, der Analytiker beansprucht hier ein Wissen, das der Patient noch nicht hat, was sich in Gegensatz zu dem Bedürfnis des narzisstisch deprivierten Patienten setzt, die privilegierte Rolle des Besserwissers zu behalten.

Auch der Funke im Auge der Mutter, von dem Kohut sprach, ist etwas wie ein Spiegel, aber doch ein anderer, als ihn Freuds Metaphern vom „wohlgeschliffenen Spiegel“ und vom Chirurgen ankündigen. Wir wissen aus vielen Berichten, dass Freuds Praxis sehr viel reichhaltiger war. Stabile Beziehungen beruhen auf Austausch und positiven Regelkreisen. Der Erfolg einer Therapie gleich welcher Schulrichtung hängt nach vielen Studien an der vom Patienten erlebten, „guten Beziehung“ zum Therapeuten. Jede gute Beziehung beruht darauf, dass nicht einer den vollen Topf und der andere den Löffel mitbringt, sondern beide geben wie nehmen.
Ich denke, dass der Begriff der Amplifikation auch hilft, die vielfach unterschätzte „stützende Therapie“ differenzierter zu sehen und auch ernster zu nehmen. Ein intellektuell anspruchsvoller Patient verliert rasch das Interesse, wenn er mit durchschaubaren Techniken traktiert wird. In Jungs Auffassung dient die Amplifikation vor allem dazu, durch Beiträge des in Mythologie, Geschichte und Anthropologie bewanderten Analytikers in Träumen und Phantasien angedeutete archetypische Gestalten und Situationen zu ergänzen und zu vervollständigen.

In diesem Sinn ist auch der schon erwähnte, von Hilda Doolittle zitierte Satz Freuds zu seiner Patientin über seine Statue der Pallas Athene eine Amplifikation: Sie ist vollkommen, aber sie hat ihren Speer verloren. Das ist doch eine ganz andere Intervention als etwa den Penisneid zu deuten. In der Tat ist das Bild der Jungfrau, die in voller Rüstung, weiser und geschickter als Männer und Götter, dem Haupt des Vaters entsteigt, nicht nur aufbauender, sondern auch vollständiger im Hinblick auf die narzisstische Problematik einer Hochbegabten.

In meiner Dissertation über Mythos und Psychologie[5], in der ich die psychologische Mythendeutung am Beispiel des Ödipusmythos darstellte, habe ich mich sehr kritisch mit dem Archetypus-Begriff auseinandergesetzt. Er sei voller Widersprüche und mäandere zwischen Biologie und Spiritualität. Inzwischen bin ich viel milder geworden, denn zweifellos lassen sich mit diesem Begriff sozusagen hilfreiche Szenen schaffen, welche narzisstisch belastete Patienten aus ihrer Isolation befreien und sie geistig mit dem Menschlichen allgemein verbinden, dessen tragische Qualitäten zu verleugnen doch weit anstrengender ist als sie zu akzeptieren. Der Gedanke, dass Menschen untereinander verbunden sind und vieles Gemeinsame in ihrer Geschichte und in den Mythen und Märchen teilen, die sie sich erzählen, braucht gar kein systematisch aufgefasstes Untergeschoss im Unbewussten. Die von mir hier aufgegriffene Gruppe von Patienten kann auf jeden Fall erzählende Interventionen weit besser verarbeiten als deutende. Die Erzählung stellt Sprecher und Zuhörer auf eine Stufe, während die Deutung impliziert, dass einer zwei Sprachen kennt, der andere aber nur eine. Aus Jung’scher Sicht arbeite ich gegenwärtig, wenn ich gerade in Paaranalysen den Unterschied zwischen der animalischen und der narzisstischen Liebe[6] herausarbeite, mit dem Archetypus des Tieres.

Im Zen-Buddhismus wird folgende Geschichte in unterschiedlichen Variationen erzählt. Ein angesehener Mönch antwortet auf die Frage nach seinem erleuchteten Zustand: Ich esse, wenn ich hungrig bin, und ich schlafe, wenn ich müde bin. Die Schüler wundern sich – tun wir das denn nicht alle? Der Weise antwortet, dass die meisten Menschen niemals ganz und gar in dem aufgehen, was sie gerade tun, sondern sich zusätzlich noch mit Ursachen und Folgen beschäftigen, die sie verwirren. Der Therapeut wird das bestätigen – viele Menschen zählen Kalorien und fürchten sich vor ihrem Hunger; andere schlafen nicht, wenn sie müde sind, weil sie unbedingt noch etwas erledigen müssen, und liegen nachts wach, weil sie sich Sorgen machen. Indes liegt der Hund auf seiner Decke; seine Praxis gleicht der des erleuchteten Meisters, wer bewundert ihn dafür?

Hier noch eine therapeutische Szene mit einer Amplifikation: Die Analysandin, eine 50jährige Akademikerin, hat mit einem langjährigen Freund einen schönen Abend entworfen: Gemeinsam kochen, bei Kerzenlicht essen, Gespräche, je nach Stimmung auch Sex. Es ist seine Küche, er ist stolz auf sein Gerät und faucht sie an, als sie mit dem Messer ein Stück Gemüse in der Pfanne zerkleinert, pass doch auf, die Beschichtung geht kaputt. „Er hat mich so aggressiv angeschaut, hat richtig gefunkelt, ich hab ihm doch nichts getan, die Stimmung war verdorben, ich hatte wenig Appetit, hab mich so durch den Abend geschleppt, er war dann wieder ganz lieb, ich wollte aber nicht bleiben, er hat mir noch angeboten, mir die Reste des Auflaufs einzupacken. Aber ich glaube, es wird nichts mit uns, er ist einfach nicht der Richtige.“
„In solchen Konflikten“, sage ich hinter der Couch, „gibt es eine animalische und eine romantische oder narzisstische Lösung.“
„Und die wären?“
„Animalisch ist es, sich anzuknurren und sich dann wieder zu vertragen, als ob nichts gewesen wäre. Narzisstisch ist es, den Konflikt festzuhalten und nach einer Möglichkeit zu suchen, dass er sich niemals wiederholt. Das wäre dann das romantische Ideal.“
„Dann suche ich doch eher nach der narzisstischen Lösung.“

Zu meinem Umgang mit narzisstisch belasteten Patienten gehört, dass ich Fragen nicht analysiere, sondern beantworte. Leitlinie ist der Gedanke, für die Patienten möglichst durchschaubar in dem Sinn zu sein, dass nichts passieren wird, was sie in Frage stellt und das prekäre Gleichgewicht von Angst vor Beschämung und Größenphantasie erschüttern würde. Erst dann versuche ich, den Hintergrund der Frage zu verstehen. Wo immer es geht, ersetze ich normative Gesichtspunkte durch ökonomische und stelle so auch von selbstschädigendem Stolz oder panischer Verlustangst getragene Entscheidungen zur Debatte.

Beispiel: Einer dieser Patienten konnte nicht ertragen, dass eine Frau, die er schon oft vor den Kopf gestoßen und mit wütenden Entwertungen weggeschickt, aber immer wieder auch vermisst und zurückerobert hatte, schließlich entnervt mit einem anderen Mann in einen Urlaub ans Mittelmeer gereist war. Er setzte sich in sein schnelles Auto, stritt sich nach einer Fahrt von beinahe tausend Kilometern heftig mit ihr, schickte sie zum Teufel und fuhr wieder zurück. Ich sprach anerkennend von diesem Einsatz für eine Beziehung, freute mich mit ihm, dass er in seinem aufgewühlten Zustand keinen Unfall verursacht hatte und stellte nur die Frage, ob das Ergebnis den Einsatz von so viel Treibstoff und Nervenkraft lohne.
Stolz, pflege ich zu sagen, ist erhaben, aber unpraktisch. Stellen wir uns vor, in meinem Dorf gibt es nur einen einzigen Laden, ich werde dort beleidigt und schwöre, nie wieder einen Fuß hinein zu setzen. Also fahre ich  zehn Kilometer in das nächste Dorf, wo der Laden bestimmt nicht besser ist. Was ist jetzt vernünftiger: den Kränkungsschwur einzuhalten, oder wieder im Ort einzukaufen und so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre?

Eine Voraussetzung, um die hier beschriebenen Patienten behandeln zu können, ist eine gewisse Gutartigkeit des Narzissmus, die sich vor allem darin ausdrückt, dass die Patienten korrekt mit dem Rahmen umgehen. Das Risiko der Entgleisung in narzisstischen Kannibalismus kann so überschaubar bleiben. Mit diesem Begriff meine ich die Tendenz, sich selbst durch die Entwertung eben der Personen aufzuwerten, von deren Anerkennung man sich abhängig fühlt. Es ist dann hilfreich, zwischen ausdrücklichen und impliziten Formen der Wertschätzung zu unterscheiden. Ich denke, dass die implizite Form, die sich in der korrekten Handhabung des Settings ausdrückt, für die Stabilität des therapeutischen Selbstgefühls genügt, aber auch unverzichtbar ist.
Unvergessen ist ein Patient, selbst Arzt mit psychotherapeutischer Ausbildung, der in einem desolaten wirtschaftlichen und persönlichen Zustand kam. Als er sich nach vielen Jahren einer niederfrequenten Analyse auf beiden Ebenen stabilisiert und einige Schicksalsschläge gemeistert hatte, verabschiedete er sich mit einer Flasche Wein, an die eine Karte gebunden war. Aufschrift: Mit Dank für langjährige treue Dienste.

Ich habe mich in meiner Darstellung auf Patienten beschränkt, weil ich bisher nur bei ihnen diese Form der manischen Abwehr beobachtet habe. Patientinnen, auch wenn sie selbst Medizin oder Psychologie studiert haben und diese praktizieren, haben in der Regel weit weniger Probleme, den Therapeuten in seiner Rolle zu akzeptieren und zu bestätigen. Bei den Männern tröste ich mich, durchaus im Modus der Amplifikation, mit zwei Geschichten.

Die erste bezieht sich auf die treuen Dienste und stammt aus dem Roman von Gustav Freytag Soll und Haben, in dem eine Szene beschrieben wird, in der die adelige Mutter einer Tochter, der zuliebe ein junger, tüchtiger Kaufmann große Opfer auf sich genommen und das Vermögen der Baronin gerettet hat, sich bei ihm für seine Dienste bedankt. Sie tut das auf eine Weise, die ihm völlig klar macht, dass sie in ihm nie etwas anderes gesehen hat als einen Domestiken mit Schnallenschuhen und gepuderter Perücke.

Die zweite Geschichte gilt ganz allgemein für die narzisstischen Männer und die Menschen, die diesen etwas beibringen wollen. Sie steht in dem italienischen Roman Il Gattopardo des Fürsten von Lampedusa und bezieht sich auf einen seiner Vorfahren. Dieser plauderte auf der Terrasse seiner Villa mit Blick aufs Meer mit einem britischen Offizier über die Sizilianer. Der Gast kam von einem der Kriegsschiffe, die während der Kämpfe Garibaldis im Hafen von Palermo lagen. Der Fürst wies auf diese Schiffe und sagte zu seinem Gast: They come, to teach us good manners. But they won’t succeed, because we are gods. Sie kommen, um uns Sizilianern gute Manieren beizubringen. Aber sie werden keinen Erfolg haben, denn wir sind Götter!

Dazu sollte man wissen, dass Sizilien damals eine der ärmsten Provinzen Italiens war.


[1] Ralph R. Greenson: Technik und Praxis der Psychoanalyse, Klett-Verlag 1973, S. 81. Die Sätze finden sich in einem Abschnitt zum Widerstand unter der Zwischenüberschrift: Häufige „fröhliche“ Stunden.

[2] Dörte von Drigalski: Blumen auf Granit. Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche Psychoanalyse. Frankfurt (Ullstein) 1980

[3] Sie sind in W. Schmidbauer: Die Ohnmacht des Helden. Unser alltäglicher Narzissmus, Rowohlt, Reinbek 1982 publiziert.

[4] Vergleiche W. Schmidbauer: Kaltes Denken, warmes Denken. Der Gegensatz von Macht und Empathie, Kursbuch-Verlag, Hamburg 2020

[5] W. Schmidbauer, Mythos und Psychologie. Methodische Probleme der Mythendeutung, aufgezeigt an der Ödipussage. Dissertation an der LMU 1969, als Buch erschienen 1970, ergänzte, 2. Auflage Reinhardt-Verlag, München 1999

[6] Vgl. W. Schmidbauer, Animalische und narzisstische Liebe, Klett-Cotta 2023 (Erscheint im Mai)

Die grossen Fragen des Alterns

Wie gehen wir damit um, dass wir älter werden? Was können wir schon weit vor der Rente tun, um uns darauf vorzubereiten? Der renommierte Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hat sich den großen Fragen des Alterns angenommen. Er packt die Probleme am Schopf und zeigt auf, wie wir unseren Ängsten begegnen und die Lebensqualität im Alter bewahren können!

Wolfgang Schmidbauer weiß, wovon er spricht. Die Lebensphase Alter kann Unsicherheiten und Ablehnung hervorrufen. Auch er selbst hat, obwohl vom Fach, so lange wie möglich die Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden gescheut. Dabei ist die Lebensmitte der ideale Zeitpunkt, die Weichen positiv zu stellen und uns auf die Veränderungen im Alter vorzubereiten. Den Herausforderungen spielerisch zu begegnen und immer im Tun zu bleiben, hilft. Wie es uns gelingen kann, mit unseren Ressourcen bewusster umzugehen, erklärt Schmidbauer kenntnisreich. Sein Buch unterstützt uns dabei, weder jung noch alt, sondern einfach im Einklang mit uns selbst zu sein. (Verlagstext)

Erschienen im Oktober 2022 im ecowing-Verlag.

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Der Machiavelli-Fehler

Neulich wurde ich wieder einmal nach einem Liebes-Rezept gefragt: Was kann ich tun, damit die Liebe meines Lebens sich nach der Hochzeitsfeier möglichst lange erhält? Ich bin grundsätzlich verlegen um solche Tipps, habe zu oft erlebt, wie Paare sich die guten Ratschläge von Experten um die Ohren hauen. Ich antwortete also nicht, dachte aber doch nach und hatte zwei Einfälle: Lasst einander in Ruhe, denn nichts schmälert die Liebe so sehr wie die Klage über den Mangel ihrer Intensität. Vermeidet den Machiavelli-Fehler! Beide Tipps sind verwandt; erklären muss man aber nur den Machiavelli-Fehler.

Ich habe den zynischen Florentiner immer gern gelesen. Er schreibt in seiner Lehre über den Gebrauch und Erhalt von Macht, Il Principe (der Fürst), was ein Herrscher tun muss, um die Gunst seiner Untertanen zu gewinnen, und beginnt erst einmal mit dem Negativbeispiel. Der törichte Fürst beschenkt zu Beginn seiner Herrschaft seine Untertanen so reich, wie es seine Mittel eben zulassen. Er hofft, sie dadurch dankbar zu stimmen und künftig in Frieden zu regieren. Aber wie nun einmal die Menschen beschaffen sind, werden sie sich nach einem Jahr an die schönen Geschenke erinnern und beim Fürsten vorsprechen, um erneut so viele Gaben zu bekommen. Der Fürst aber hat nichts mehr, was er hergeben kann. Sie gehen leer aus und werden ihn als geizigen, schlechten Herrscher verfluchen.

Der weise Fürst hingegen nimmt anfangs den Untertanen so viel weg, wie er ihnen in den Grenzen des Anstands wegnehmen kann. So hat er genug zu geben und wird es ihnen in den nächsten Jahren nach Maßgabe ihrer Verdienste zukommen lassen. Sie werden ihn als gütigen und gnädigen Herrscher in Erinnerung behalten.

Den Machiavelli-Fehler habe ich oft beobachtet, nicht nur in Paaren, sondern auch bei Teamleitern, bei Ärzten, die eine Praxis gründeten, bei Unternehmern. Mein Rat wurde nicht in der euphorischen Phase gesucht, in der die Klienten noch glaubten, Gebefreude und Großzügigkeit würde automatisch ähnliche Eigenschaften wecken, sondern erst in mehr oder weniger verbitterten Zuständen später. Eine hervorragend qualifizierte, aber von ihrem Praxispersonal tief enttäuschte Fachärztin formulierte es so: ich bin doch gut zu allen Menschen, wieso sind die nicht auch so gut zu mir?

In Liebesbeziehungen sind vor allem selbstunsichere Personen gefährdet, die mögliche Zweifel an der Intensität ihrer Gefühle durch Geschenke kompensieren. Am Ende versetzen sie nicht selten der Erotik den Todesstoß, indem sie mangelnde Gegenleistungen einklagen. Aus eben der Person, die sie soeben noch des Liebesversagens beschuldigt haben, möchten sie durch Vorwürfe Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit herauspressen.

Es ist leicht, die miesen Erfolge solcher Strategien zu erkennen, aber schwer und manchmal kaum zu leisten, den wachsenden Ärger über eine Schieflage zu mäßigen. Platzt er heraus, ist der Druck erstmal weg – gebessert wird auf diesem Weg nichts, im Gegenteil.

Mein aktueller Anlass, über den Machiavelli-Fehler zu schreiben, ist ein politischer. Am ersten Juni wurden wir alle von der rotgrünen Regierung reich beschenkt: wir können für wenig Geld Regionalrail fahren wie seinerzeit für viel mehr Geld Interrail. Obendrein werden Benzin und Diesel billiger, weil der Staat auf einen Teil seiner Steuereinnahmen verzichtet.

Es ist nicht schwer sich auszumalen, dass unsere Regierenden bald nicht mehr so großzügig sein können. Sie denken auch nicht in Jahren, sondern in  Monaten: nach einem Vierteljahr ist es mit den Gaben vorbei. Wir leben in unheroischen Zeiten.Es wird sich niemand nach der Rhetorik Churchills sehnen, der Blut, Schweiß und Tränen versprach, sonst nichts. Angesichts der immensen Aufgaben, die ein Ende der Verbrennungswirtschaft für unsere Mobilität darstellt, mutet die symptomatische Kur der Krisenfolgen makaber an. Wo bleibt die Nachhaltigkeit? Ist es das richtige Zeichen, mit Geschenken zu beginnen, um Veränderungen anzustoßen, die von uns allen auf lange Sicht verlangen, zu sparen, den Gürtel enger zu schnallen, auf Bequemlichkeit zu verzichten?

Es gibt großen Steuerungsbedarf, um die Mobilität umweltfreundlicher zu machen. Die deutsche Automobilindustrie ist ebenso wie Tesla auf dem falschen, der Profitmaximierung dienenden Weg, teure, schwere Stromfresser als „umweltfreundliche“ Alternative zu den Verbrennern anzubieten. Nur kleine Startups wie Sion in München versuchen, nachhaltige Autos zu konstruieren, die sich der Durchschnittsverdiener leisten kann. Hier könnte der Staat unterstützen, er könnte durch gezielte Förderung Druck machen, dass Elektroautos sparsam und leicht werden, nicht schwer und teurer. Es wird mühsam sein, der Abhängigkeit von korrupten Oligarchen zu entkommen. Ein Sommermärchen von freier Fahrt und billigem Treibstoff bereitet uns nicht auf diese Mühe vor.

Der Fortschritt und das Glück


Unsere Zeit ist von einem seltsamen Widerspruch geprägt: Obwohl uns der Fortschritt immer mehr Wohlstand und Sicherheit bringt, leiden immer mehr Menschen an Depressionen und Ängsten.

Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer wirft einen Blick auf unsere moderne Gesellschaft und diagnostiziert, dass wir nicht trotz, sondern wegen des Fortschritts immer unglücklicher sind: Geplagt von Verlustängsten und angehalten zum steten Konsum haben wir verlernt, uns selbst zu lieben, und passen stattdessen unsere Körper an gesellschaftliche Wunschbilder an. Anstatt den Dialog zu suchen, sind  wir von kleinsten Meinungsdifferenzen tief gekränkt; anstatt eine gute Zukunft für unsere Mitmenschen und den Planeten anzustreben, scheuen wir jede Einschränkung unserer wirtschaftlichen Freiheiten. Schmidbauer erklärt, was hinter diesen Impulsen steckt, und plädiert für mehr Empathie und Gelassenheit im Umgang mit uns selbst und unseren Mitmenschen.

Erschienen im April 2022 im oekom-Verlag.

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Der schwarze Atem

Gekürzt unter dem Titel Wir sind einander Aussätzige geworden erschienen in Die Welt am 21.1.2022

2020 war das Jahr des Virus, 2021 war das Jahr der Impfungen. Aber was ist 2022? Mein erster Einfall war das Jahr der Erschöpfung,  mein zweiter, der mir besser gefällt: das Jahr der Reparaturen. Es gibt viel heil zu machen. In dem Bestreben, Leben zu retten und Sicherheit zu gewinnen, ist viel kaputt gegangen. Das passierte einfach so. Wer es eilig hat, müsste ein Übermensch sein, um nicht zum Trampel zu werden. Wo gegen Gefahren gehandelt wird, dominiert ein kämpferisches Ego und zieht eine Schleppe von Kollateralschäden hinter sich her.

Die wenig Sichtbaren, die keine laute Lobby haben, litten am meisten. In einer Studie aus Hamburg-Eppendorf berichteten vor der Krise Kinder und Jugendliche zu rund 10 Prozent über Depressionen und Ängste. Während der Pandemie stieg die Zahl auf 15 Prozent für Depressionen und auf 30 Prozent für Ängstlichkeit. Unser Umgang miteinander hat sich nachhaltig verändert.  Es bleibt nicht ohne Folgen, wenn zwei Jahre lang allen Menschen, die Nachrichten lesen oder die Tagesthemen einschalten, eingehämmert wird, dass kein Mensch mehr absolut sicher sein kann, für seine Mitmenschen jenen „schwarzen Atem“ mitzubringen, der in der Mythologie von J.R.R.Tolkien den bösen Geistern vorbehalten ist und jeden siechen lässt, der sich ihm aussetzt.

Es ist, als wären uns über Nacht Giftzähne gewachsen. Wenn ich gesund und kräftig bin, habe ich gute Chancen, das Virus abzuwehren. Aber ich spüre womöglich nichts und stecke doch andere an, die längst nicht so wehrhaft sind wie ich. Genau diese Möglichkeit hat Covid 19 zum Auslöser einer globalen Krise gemacht, die sich in verschiedenen Formen auch in der Psyche jedes Einzelnen festsetzt.

Nur noch im Märchen können sich Rotkäppchen und die Großmutter aufeinander freuen, wenn das junge Ding sich mit dem Kuchen im Körbchen aufmacht, um die Oma zu besuchen. Sicher war die Welt immer gefährlich; gerade in den Märchen fehlt es nicht an Wölfen, Hexen und dem leibhaftigen Teufel. Aber dass ich mich gesund und fröhlich fühle, und doch den Tod bringen könnte, das ist sehr neu und sehr unheimlich.

Weihnachten 2020 sah dann so aus: Eltern und Enkel bringen Plätzchen und eine Thermoskanne mit. Sie sitzen unten im Freien auf der Terrasse in ihren Daunenjacken, oben auf dem Balkon die Großeltern. Weil Familien ohne Sinn für Humor sowieso nichts zu feiern haben, geht das Ganze durchaus freudig über die Bühne. 2021 waren dann alle geimpft, geboostert, getestet in einem Raum – fast wieder normal?

Wer sich mit Vorhersagen zurückhält, ist auch sicher vor Blamagen. Aber soviel lässt sich mit Sicherheit sagen: wir werden nicht zu der Unbefangenheit zurückfinden, die 2019 selbstverständlich war, zu einer Zeit, in der sich Nähe und Distanz impulsiv regelten und wir Freunde besonders fest umarmten, wenn wir sie länger nicht gesehen hatten.

Bis 2019 gab es in meiner psychotherapeutischen Praxis Patienten, die mich mit roter Nase und tränenden Augen anlächelten, mir die Hand drückten und sagten: ich bin zwar erkältet, aber ich bin trotzdem zu Ihnen gekommen. Es wäre taktlos gewesen, sie wieder nach Hause zu schicken, was ich schon damals im Kopf hatte, auch wenn es nicht über die Lippen kam. Aber nach 2020 ist diese Szene verschwunden, eher kommt ein Anruf, eine mail, ich habe einen Schnupfen, komme lieber nicht, können wir telefonieren?

2020 habe ich den Händedruck zur Begrüßung und zum Abschied abgeschafft.  Das Risiko einer Ansteckung auf diesem Weg war immer sehr klein, aber die deutlichste Botschaft der Pandemie ist ja: Wo die Gefahr insgesamt groß ist, zählt auch der kleinste nachweisbare Schutz. Ich kann mir jetzt nicht mehr vorstellen,  Patientinnen und Patienten mit einem Händedruck zu begrüßen und zu verabschieden.

Es ist, als sei ich damit aus der Übung gekommen. Andere Rituale, die als Ersatz vorgeschlagen wurden, Fäuste, Ellenbogen, gar Knie oder Fuß zu verwenden, schien mir immer lächerlich. Der Händedruck hat eine ehrwürdige Tradition, er kommt aus einer Zeit, in der Männer Waffen trugen und wer die nackte Hand ausstreckte und drücken ließ, der trug nichts Gefährliches in ihr. Aber sind nicht die Zeiten vorbei, in denen derlei makroskopische Harmlosigkeit bewies, dass der Gruß besonders herzlich ist? Es liegt eine innere Logik darin, sich von einem Brauch zu verabschieden, der aus ritterlichen Zeiten stammt. Je mehr Menschen und Viren die Globalisierung durcheinanderwirbelt, desto weniger können wir Fremde ungeschützt anfassen. Wir sind einander Aussätzige geworden.

So scheint es mir nur konsequent, wenn ich nicht wieder damit anfange, Hände zu drücken. Zwei Jahre Pandemie haben ausgereicht, um mir klar zu machen, dass ich gar nicht mehr wissen will, wie das geht. Ich begrüße aus Abstand mit einer kleinen Verbeugung. Wenn die Sitzung vorbei ist, stehe ich auf und öffne das Fenster. Meine Klienten gehen aus dem Raum, ich winke ihnen zu, so ist das jetzt und so wird es wohl bleiben.  

Es gibt neue Rituale. Wir zeigen die Impfbescheinigung oder die Bestätigung über den negativen Test. Wir setzen die Maske auf. Auch wenn diese nicht mehr vorgeschrieben sein wird – es wird wohl in Zukunft auch hierzulande und nicht nur im fernen Osten Menschen geben, die es vorziehen, sich vor bösen Aerosolen zu schützen. Einst lagen Zigarettenpackungen auf dem Bürgersteig, heute und in Zukunft sind es Masken.

Die umfangreichste Reparatur wird eine paranoide Stimmung erfordern, die sich in den letzten Jahren bemerkbar macht. Sie ist ein Kind der Angst, ein exzessives Aufgeregtsein, in dem sich die Welt mit imaginären Feinden füllt. Paranoia heißt im Griechischen Vorbeidenken. Der Begriff ist aus der Psychiatrie in den allgemeinen Sprachgebrauch gesickert und wird auf Gedanken und Stimmungen angewendet, in denen Menschen sich verfolgt fühlen, nicht weil sie tatsächlich verfolgt werden, sondern weil sie eigene Aggressionen in andere projizieren.

Gegenwärtig fühlen sich Impfgegner von der Impfpflicht bedroht, als wollte man sie vergiften, während die ärztliche Forschung darlegt, dass der Piks weit mehr bewahrt als gefährdet. Wer mit dem naturwissenschaftlichen Denken vertraut ist, wird die Impfung für einen der gar nicht so zahlreichen medizinischen Fortschritte halten, die großen Nutzen für die Gesundheit mit minimalem Risiko verbinden. Einwände gegen diese segensreiche Erfindung haben jedoch die Menschheit belastet, seit es Impfungen gibt.

Gewiss sind die paranoiden Stimmungen durch die während dieser zwei Jahre in so viele Köpfe gehämmerte Phantasie über den giftigen Atem verstärkt worden. Durch Impfen, Testen, Masken und Kontaktverbote lässt sich die pandemische Gefahr kontrollieren. Aber diese Kontrolle ist immer lästig, oft wirtschaftlich bedrohlich und auf jeden Fall so pauschal, dass der Staat die Last der Nachteile nicht gerecht verteilen konnte. Nichts bringt Menschen mehr auf als die Drohung, ihnen etwas wegzunehmen, an dem ihr Herz hängt. Die Corona-Krise ist zwangsläufig eine Krise des Vertrauens. Wo das Vertrauen kaputt gegangen ist, keimen paranoide Phantasien. Wenn Menschen sich nicht mehr von den urtümlichen Affekten Angst und Aggression distanzieren können, suchen sie nach schnellen und einfachen Lösungen. So fallen sie Schnelldenkern zum Opfer, selbst ernannten Experten, die soeben eine Verschwörung aufgedeckt haben, die sich gegen die rettenden „natürlichen Abwehrkräfte“ richtet. Die Verschwörer sind Institutionen, die wir nicht entbehren können: die Weltgesundheitsorganisation, die wissenschaftliche Forschung, das Parlament, die Medien, die forschende Pharma-Industrie.

In halbwegs friedlichen Zeiten haben Ehepaare, Geschwister, Freunde gar nicht bemerkt, dass sie sich in ihrer Fähigkeit beträchtlich unterscheiden, Ängste und Aggressionen zu verarbeiten. In den Jahren 2020 und 2021 wurden solche Differenzen schmerzlich bewusst. Es gab Ehen, in denen sich die Partner entfremdeten, weil die Pandemie die Beziehung so überlastete, dass die Fundamente bröckelten. Ein Mann will das Haus nicht mehr verlassen und bunkert sich mit gelieferten Vorräten ein. Seine Partnerin möchte weiter in die Arbeit gehen und einkaufen. „Du willst uns umbringen!“ klagt er an. Inzwischen leben sie in Scheidung.

Im Tolkien-Universum gibt es ein Mittel gegen den schwarzen Atem. Es heißt Athelas, ein Elbenword für Königsblatt. Es ist eine eher unscheinbare Pflanze, ich denke an Maiglöckchen: kleine weiße Blüten und grüne Blätter. Wenn es zerrieben wird, verströmt es einen Duft, der an einen Frühlingsmorgen erinnert, düstere Gedanken und das Gift des schwarzen Atems vertreibt.

Misstrauen, Paranoia und Todessehnsucht weichen in Tolkiens Saga nicht den professionellen Ärzten, sondern einem Kind, das eine halb vergessene Heilpflanze findet. Das scheint mir ein versöhnlicher Gedanke. Kinder glauben doch, so lange sie nicht eines Schlechteren belehrt werden, dass Vertrauen bequemer ist als Misstrauen und Liebe stärker ist als Angst.

Die Qual der Wahl und die Wohltat des Zwangs

Der erste Teil dieses Essays erschien am 17.11.2021 in der WELT

Es gibt Fälle in der Paartherapie, in denen der Berater Mühe hat, nichts ins Nostalgische abzuschweifen. Wenn es eine moderne Szene gibt, die Love’s Labour’s Lost illustrieren könnte, dann ist es die verlorene Liebesmühe Liebender, die eigentlich gerne ein Kind möchten, aber unsicher sind und nun schon an der Frage scheitern, ob sie die Pille absetzen wollen. Es gibt sicher wichtigere Probleme als das Mitleiden des Therapeuten, was da in den Tagen und Nächten der Gespräche, Vorschläge, Rückzüge über dieses Thema an Lebens- und Liebesqualität verloren geht. Er mag sich sogar sagen, wenn das Entscheiden in der Moderne nicht so schwer geworden wäre, hätte seinesgleichen nicht viel zu tun.

Meist es ist unschwer möglich, sich mit solchen entscheidungsgequälten Paaren darauf zu einigen, dass es sich doch in vormodernen Verhältnissen weniger komfortabel, aber unter weniger seelischem Stress lebte. Eine Schwangerschaft fiel dem Paar auf den Kopf. Niemand musste sich für ein Kind entscheiden. Es war einfach da.

Aus diesem Vergleich lässt sich eine grundlegende Erkenntnis über die Dynamik der Psyche ableiten. Wir Menschen sind konstruiert, die Realität zu bewältigen. Mit der Eventualität tun wir uns schwer. Ein schwangeres Paar ist in aller Regel eine wunderbare Sache, es mag jede Menge Probleme geben, aber sie werden, eines nach dem anderen, abgearbeitet. Aber das Paar im Entscheiden, ob die eigene Liebe stark genug, entschieden genug ist für ein Kind, ob die berufliche Sicherheit ausreicht, den Lebensstandrad zu halten, ob die eigenen Elternerfahrungen (Psychologie im Nebenfach!) sich nicht negativ auswirken werden, ob ein gemeinsames Kind die empfindliche Haut des Vaters oder den schwachen Magen der Mutter…

Ich habe Paare erlebt, die vorab klären wollten, welche Freunde noch zu Besuch kommen dürfen, ob nach der Geburt Stammtischbesuche erlaubt bleiben und das Kind ein zweites Eis bekommt, wenn es das erste fallen lässt. Dürfen wir, wenn wir alleine Urlaub machen wollen, das Kind bei meinen Eltern lassen?  Kurzum: Wir wollen etwas Neues, aber keine der alten Sicherheiten verlieren. Wir sind zu keiner Entscheidung gekommen, aber wir haben alles versucht. Geben wir es diesmal auf, reden wir im nächsten Urlaub nochmal drüber.

Das  Urbeispiel einer Wahl-Qual ist nach einem Denker des Mittelalters Buridans Esel genannt. Ein Esel steht zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen. Er verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll. Schon vorher hat der persische Dichter Al-Ghazālī  (1058–1111) ein ähnliches Dilemma formuliert: Wenn ein durstiger Mann auf zwei unterschiedliche Gläser Wasser zugreifen kann, die für seine Zwecke in jeder Hinsicht gleich sind, müsste er verdursten, solange eins nicht schöner, leichter oder näher an seiner rechten Hand ist…

Die Qual der Wahl ist ein Luxusproblem, das Hungrige und Durstige nicht kennen, anders als Philosophen, die über Entscheidung und Willensfreiheit grübeln. Unsere Emotionen sind auf das Leben in der Kultur der Jäger und Sammler zugeschnitten. Wer bei jeder Begegnung schnell herausfinden muss, ob er Beute machen oder zur Beute werden kann, quält sich nicht mit Eventualitäten. Er handelt und überlegt nachher (wenn er Glück hat), ob er richtig agiert hat.

Unser Leben ist nicht so einfach, hart und gefährlich geblieben. Zur Kulturentwicklung gehört das Erstarken der Angst auf Kosten des Hungers. Der Steinzeitmensch erwacht und hat Hunger. Der Stadtmensch erwacht und hat Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen. Und irgendwann ist es die falsche Entscheidung, auf die richtige zu warten

Unsere Emotionen teilen die Welt in eine erträgliche und eine unerträgliche Hälfte. Unsere  Vernunft kann unendlich viele Vorzüge und Nachteile hinter einer Weggabelung aufzählen. Entsprechend parteiisch sind die Alltagsratschläge, mit denen wir Entscheidungsschwachen auf die Sprünge helfen. Handle aus dem Bauch heraus! Folge Deiner Intuition, deinem Instinkt, deinen Eingebung! Oder aber: Lege eine Liste an mit allen Vorteilen und Nachteilen jeder Entscheidung, gewichte sie nach einem Punktesystem, dann machst du keinen Fehler! Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach, sagen die einen; wer seine Träume aufgibt, gibt sich auf, die anderen.

Eine aktuelle Entscheidungsqual betrifft die Impfung gegen die Covid-Pandemie. Lasse ich mich impfen, lasse ich mich nicht impfen, was spricht dafür, dagegen, – ach, morgen ist auch noch ein Tag! Weil solches Zögern gefährlich ist und den schon sicher geglaubten Sieg über das Virus in Frage stellt, wäre ein staatlich verordneter Impfzwang hilfreich. Die Staaten handhaben das sehr unterschiedlich. Deutsche Politiker glauben, einen Beitrag zum seelischen Wohlbefinden ihrer Wähler zu leisten, indem sie deren Freiheit schützen,  sich für oder gegen eine Impfung zu entscheiden.

Psychologisch überzeugend ist das keineswegs. Denn wenn eine Impfung vorgeschrieben wird (wie früher die Pockenimpfung), fällt sie in ein neues Denkmuster. Sie ist einer der vielen Zwänge, mit denen sich ein moderner Bürger abgefunden hat, Schulpflicht, Führerschein, Geschwindigkeitsbeschränkung, Steuerzahlen, name it! Es gibt ein schönes altes Wort dafür: Staatsraison, ein System von Begründungen, die einfach gelten, damit der Staat funktioniert, starr und stur.

Um das Risiko der Infektion und das Impfrisiko rational zu vergleichen, muss ich naturwissenschaftlich denken und meinen Fähigkeiten vertrauen, Fakten von Gerüchten zu unterscheiden. Wer das nicht leistet, wird auf jeden Fall das Schuldgefühl über eine falsche Entscheidung vermeiden wollen, das unser modernes Leben so vielfältig belastet. Der Zwang nimmt ihm das ab. Er darf aufhören zu grübeln, es gibt etwas zu erledigen. Psychisch kann das eine Wohltat sein, auch wenn die Aktion lästig ist.  

Wir sind in eine Zeit geraten, in der die Vernunft dumm wird, wenn sie das Abwägen und damit Aufschieben zum Selbstzweck macht. Das gilt für die schwer beweglichen und vor allem auf Sicherung ihres Komforts bedachten Länder Europas noch weit mehr als für den Rest der Welt.

Zum Beispiel Brasilien: In Sao Paulo grassierte 2020 die Pandemie derart, dass Särge knapp und Massengräber ausgehoben wurden. Aber am 8. November 2021 ist binnen 24 Stunden niemand mehr an Covid gestorben, fast 100 Prozent der Bevölkerung sind geimpft. Das staatliche Gesundheitssystem kann für Schwerkranke viel weniger tun als Europas Krankenhäuser für die aufwändig versicherten  Bürger. Aber die Brasilianer haben sich vom Sinn der Impfprophylaxe überzeugen lassen. Fast könnte man sagen: je verrückter der Regierungschef, desto vernünftiger die Bevölkerung, denn Jair Bolsonaro behauptet bis heute, er könne nicht dafür garantieren, dass die Impfung nicht Männer in Frauen, Frauen in Männer oder beide in Krokodile verwandle.

Die Auserwählten

Für jemanden, der sich sein Arbeitsleben bemüht hat, Menschen zu helfen, war der Hass doch überraschend, den mein Text über die Qual der Wahl und die psychologischen Vorzüge einer Impfpflicht ausgelöst hat. Ich sei ein Nazi, meine Bücher gehörten in die Mülltonne….Wer solchen Kommentaren schon gelegentlich ausgesetzt war, nimmt das hin. Bewegt hat mich dann doch ein anonymer Brief, eine Kollage aus einem Fragment des gedruckten Artikels in der WELT und einer Impfspritze, übergossen mit einer roten Flüssigkeit, vielleicht Tinte, vielleicht Blut – Blut war jedenfalls gemeint. Kurzum: wer die Impfung gegen Covid in eine Reihe mit der Gurtpflicht im Auto und anderen Einmischungen des Staates stellt, ist ein Mörder.

Nun gehört es zum – je nach Perspektive – Nutzen oder Nachteil der Psychologie, dass sie aus allem etwas herauslesen kann. Also begann ich mir Gedanken zu machen, worin solche Verzerrungen des Urteils wurzeln und ob es möglich ist, sie zu verstehen. Apropos Gurtpflicht: Ich bin so alt, dass ich mich an die Zeit erinnere, in der sich niemand anschnallte. In meinem ersten Käfer, mit Zwischengas zu schalten, gab es immerhin schon Gewinde. Weil ich immer gerne gebastelt habe, baute ich die Gurte selber ein und legte sie auch an. Das war lange Zeit absolut freiwillig, aber mir leuchtete der Vorteil ein, nicht mit Brustkorb und Lenkrad einen Aufprall abzufangen.

Bekannte sagten, niemals würden sie sich anschnallen, das sei hochgefährlich. Sie wüssten aus sicherer Quelle, dass viele Angeschnallte elend in ihrem Auto verbrennen, weil der Gurt sich nach einem Unfall nicht lösen lässt. Aber es gab Forschung und Statistiken, am Ende setzte sich die Gurtpflicht durch. Noch Jahre später be, obwohl ich mich Jahre später an einen Taxisfahrer erinnere, der den Gurt zwar über seine Brust zog, damit es bei Kontrollen nicht auffiel, aber dessen eigentliche Funktion verweigerte, ein Gurtfälscher sozusagen.

Ich habe mich sechzig Jahre lang angeschnallt. Nur ein einziges Mal hat es mich vor Schaden bewahrt, in einem Landcruiser, der sich im Jemen überschlug. Das Auto hatte Gurte, aber niemand benutzte sie; ich musste meinen unter einer Wolldecke herausgraben und saß neben dem Fahrer, der aus dem Auto geschleudert wurde und seither im Rollstuhl sitzt.

Man wird einwenden, dass der Gurt eine äußerliche Sache ist, während die Impfung in den Körper eindringt. Das ist richtig, aber dieses Eindringen ist bis auf jenen winzigen Bruchteil, in dem es unerwünschte Wirkungen gibt, absolut harmlos, wie auch das Anlegen des Gurtes nur zu einem winzigen Bruchteil der Fälle den Fahrer in einem brennenden Auto fixiert. Es geht um die statistische Rationalität, das Abwägen von Nutzen und Schaden, und eine Entscheidung hin zum größeren Nutzen für die eigene Gesundheit und – im Fall der Impfung – für den Schutz Dritter.

Wer das Gespräch mit Impfgegnern sucht, findet dieses Abwägen sozusagen verrutscht: Dem Mainstream der Wissenschaft wird das Vertrauen aufgekündigt, die Pharmaindustrie hat schon oft gelogen, sie lügt auch diesmal, fälscht die Statistiken, es gibt viel mehr Impfschäden als die veröffentlichen Dateien sagen. Nun ist es richtig, dass große Konzerne und mächtige Industrien schon oft versucht haben, die Wissenschaft krumm zu machen. Immer wieder ist es ihnen eine Weile lang geglückt. Aber wenn es eine Institution gibt, die sich selbst reinigen kann und das auch tatsächlich tut, dann ist das doch die naturwissenschaftliche Forschung.

Während populistische Führer in von Korruption geplagter Staaten geradezu regelhaft den Kampf gegen Korruption auf ihren Fahnen schreiben, nicht um diese abzuschaffen, sondern um sie für ihre Anhänger zu erschließen, wird in der Naturwissenschaft nie vom Kampf gegen Fälschungen geredet. Er findet pausenlos statt. Es wird ständig geprüft, kontrolliert, nachjustiert. Wer Daten manipuliert, kommt damit nicht auf Dauer durch.

Pathetisch aufgeblähte Einzelfälle oder das Insinuendo von unterdrückten Wahrheiten, gegen die mutige Aufklärer kämpfen, entsprechen dem, was der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler 1921 in einem heute noch lesenswerten Buch das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin genannt hat. Auch Akademiker agieren unter Entscheidungs- und Handlungsdruck nicht wissenschaftlich, sondern selbstbezogen und undiszipliniert, schrieb Bleuler seinen Kollegen ins Stammbuch.

Die Impfpflicht ist nicht das große Gute, sondern das kleinere Übel. Sie wird weniger Menschen Angst machen als der Verzicht auf sie, aber jeder Einzelne, der leiden soll, ist einer zu viel. Die Ängste vor der Impfung sind nun einmal in der Welt. Wen sie bedrängen, der kann die Spritze nicht gelassen wirken lassen. Es ist eben nicht einfach, sein Denken so zu disziplinieren, dass es Wahrscheinlichkeiten akzeptiert und sich damit zufrieden gibt, dass etwas schon gut gehen wird, weil es eben sehr oft gut geht.

Je größer und näher die Gefahr, desto größer wird auch die Verzerrung der Risikoeinschätzung. So schiebe ich seit einem Jahr eine Augenoperation vor mir her, die eine trübe Linse austauschen soll, aber mit einem minimalen Risiko der Erblindung behaftet ist. Leider ist das zweite Auge vorgeschädigt, ich habe nur die eine Chance, wieder normal zu sehen, und niemand kann mir garantieren, dass ich nicht zu dem einen von tausend Operierten gehören werde, bei denen etwas schief geht.

Es ist eben ein Teil unserer Erziehung zur Persönlichkeit, zum unverwechselbaren Individuum, der uns von Kindheit und Jugend an ersehnen lässt, etwas Besonderes zu sein. Wenn wir gerne auserwählt wären – können wir dann sicher sein, dass uns nicht gerade auch die finstere Seite des Schicksals erwählen wird? Dass alle anderen Flieger, die gerade in der Luft sind, sicher landen, während der abstürzt, in dem ich sitze? Nimm dich nicht so wichtig, mahnt das Gewissen – aber indem es mahnt, macht es sich doch schon wieder wichtig und reißt uns aus der fatalistischen Gelassenheit, die in einem Slum der dritten Welt wohl einfacher zu haben ist als in einer Altbauwohnung in München-Schwabing.

Die narzisstische Komponente, mit der ich mich vor meiner Katarakt-Operation plage, spielt auch in der Impfdebatte eine wichtige Rolle. Unser Immunsystem, das eindringende Erreger abwehrt, ist ein ganz wesentlicher Teil der eigenen Phantasie über das Ich. Wenn ich alle eindringenden Viren aus eigener Kraft besiegen kann, erhebt das mein Selbst über die Ängstlichen, die sich das nicht zutrauen. Und dieses Gefühl, potenziell auf der Siegerseite zu sein, ein naturwüchsiger Held, soll ich opfern? Nicht gern, auch wenn ich zugebe, dass zu den Zeiten, in denen unser Immunsystem sich entwickelte, kein Fledermaus-Virenmutant im Airbus von Wuhan nach Europa reiste.

Ich erhoffe mir von der Impfpflicht eine von moralischen Blähungen befreite Situation. Es könnte dann Impfmuffel geben, wie seinerzeit die Gurtmuffel; große Worte wie Verantwortungslosigkeit oder eine Verschwörung der Schlafschafe würden verschwinden. Übrig bleiben Menschen, die unterschiedlich mit Ängsten umgehen, und ein Staat, der das ihm Mögliche für die Gesundheit seiner Bürger tut.

Wer Ängste schürt

Wer sich von den bösen Lügen über zehntausende von Impftoten anstecken lässt, wird sich fürchten. Eine von Todesgedanken begleitete Spritze in den Oberarm ist etwas ganz anderes als die realistische Sicht: Minimales Risiko, Schutz vor einer ernsten Krankheit.

Impfmythen haben die Menschheit belastet, seit es Impfungen gibt. So ist die gefürchtete Kinderlähmung sehr erfolgreich und weltweit durch eine Schluckimpfung bekämpft worden. Aber es gab auch Rückschläge, wie in Nigeria.  Dort wurden 2004 in muslimischen Bundesstaaten Gerüchte verbreitet, die „christlichen“ Impfstoffe würden Menschen unfruchtbar machen. Provinzgouverneure förderten die Gerüchteküche; der Streit zwischen muslimischen und christlichen Bundesstaaten ist in Nigeria endemisch.

Der nigerianische Boykott warf das Programm der WHO zur Ausrottung der Polio um Jahre zurück; mit den Mekkapilgern verbreitete sich die Ansteckung wieder bis nach Indonesien; es kostete das Global Polio Program 500 Millionen Dollar, den Schaden einigermaßen gutzumachen.

Vor einigen Tagen kam die Leiterin einer Kindertagesstätte in ihr Coaching. Sie ringt gerade mit der Belastung ihres Teams durch zwei junge Frauen, die sich partout nicht impfen lassen wollen, weil – die Impfung unfruchtbar macht.

Warum sich Kinder böse Eltern machen

Erschienen im November 2020 (etwas gekürzt) unter dem Titel „Immer auf die Eltern“ in Psychologie heute

Es würde unserer Vorstellung von einem normalen Verhalten entsprechen, dass wir die Gesellschaft von Personen suchen, die uns gut tun, und Kontakte mit Menschen meiden, die uns kränken. Aber erwachsene Kinder verhalten sich ihren Eltern gegenüber oft gänzlich anders. Sie suchen die Nähe zu kränkenden Eltern und weisen Gaben – etwa bares Geld – empört zurück, die sonst erfreut eingesteckt werden. Sie wollen verstanden werden und fühlen sich unverstanden.
Entwertend und voller Klagen über Eltern zu sprechen bedeutet keineswegs, dass die Bindung an sie schwach, die Wünsche an sie zurückgenommen sind. Sie werden nach wie vor gebraucht. Manches an den Äußerungen der erwachsenen Kinder hört sich an, als ginge es um die Rechtfertigung für einen eigenen Mangel an Lebenszufriedenheit oder Zukunftshoffnung. Die Eltern sind etwas schuldig geblieben, was sie hätten geben können, wenn sie nur gewollt hätten, – und die Folgen sind schlimm.
Es gibt erwachsene Kinder, die jedes zweite Wochenende weite Fahrten auf sich nehmen, um Eltern zu besuchen, die sie kränken. Ich habe absichtlich dieses Wort gewählt, obwohl „enttäuschen“ ebenso möglich wäre. Aber „enttäuschen“ heißt dem Wortsinn nach, dass eine Täuschung erledigt wird. Die Unfähigkeit, aus der Kränkung diese Enttäuschung zu machen, die Erwartungen tatsächlich zu korrigieren, wird zum Motor des Verhaltens der Gekränkten.

Erwachsene Kinder, welche Fehler ihrer Eltern beklagen, sprechen heute vor allem über Mängel in der Erziehung. Sie vergleichen ihre Eltern mit dem Bild, das sie von „wirklich guten“ Eltern entworfen haben. Sie überzeugen sich, dass die Probleme, die sie jetzt als Erwachsene haben, mit der Differenz zwischen den realen Eltern und diesem Idealbild zusammenhängen.
Damit sind die Eltern nicht in der Vergangenheit und in der äußeren Welt angesiedelt. Sie halten einen Brückenkopf im Inneren der erwachsenen Kinder und kontrollieren vermeintlich von dort aus das Kind. Diese fiktiv fortbestehende Einflussnahme ruft nach Verteidigungsmaßnahmen. Die Eltern ahnen oft nicht, welche Macht ihnen zugeschrieben wird. Sie sind hilflos gegenüber Aktionen des erwachsenen Kindes, die sich gegen eine Besatzungsmacht richten, vom der die Eltern gar nicht wissen, dass sie existiert. Selbst dementen  Eltern schreiben die erwachsenen Kinder eine Energie zu, die nur sie selbst besitzen.
Es gibt keine einseitige Transformation. Eine transformierende Beziehung (wie die Erziehung) wirkt in beide Richtungen. Indem die Eltern an das Kind Phantasien herantragen, indem sie ihm Bilder vermitteln, was sie selbst gerne geworden wären und was sie sich wünschen, dass das Kind werde, wecken sie in dem Kind Gegen-Phantasien. Es baut Bilder auf, wie die Eltern beschaffen sein müssten, um die eigenen Ziele zu erreichen und ein befriedigendes Leben zu führen.

Solange das Kind Erfahrungen mit einer äußeren Wirklichkeit macht und die Eltern ihm helfen, diese Erfahrungen zu verarbeiten, halten sich die wechselseitigen Erwartungen an klare Grenzen. Die Realität, mit der sich das Kind beschäftigt, ist konstant und allgemein. In einer Jägerkultur sind diese Konstanten das Verhalten und die Beschaffenheit der Jagdbeute. In einer agrarischen Tradition sind es Anbau und Ernte, Größe des eigenen Grundbesitzes, Frondienste an einen Feudalherrn. Eltern ernähren und schützen ihr Kind, so lange es klein ist. Sobald es selbständiger wird, ist es ebenso wie die Eltern Traditionen unterworfen, die über beiden stehen.

Das ändert sich in der individualisierten Gesellschaft. Jetzt werden die Phantasien der Eltern mächtiger – und ebenso die des Kindes. Das Kind ist vor die Aufgabe gestellt, herauszufinden, wie konform diese Phantasien der Eltern mit seinen eigenen sind. Der Vater findet es beispielsweise „normal“, dass seine 15jährige Tochter zur vorgeschriebenen Stunde zuhause ist und ihm jeden jungen Mann vorstellt, mit dem sie Kontakt haben möchte. Die Tochter findet diese Auflagen sinnlos und grausam, gehen sie doch über das hinaus, was unter ihren Altersgenossinnen als „normal“ gilt.
Es lassen sich zwei Positionen unterscheiden, eine, in der böse Eltern nachhaltig benötigt werden, und eine andere, in der das Versagen der Eltern als Ausdruck begrenzter menschlicher Möglichkeiten gesehen wird.

Position A: „Mein Vater hat mein Leben zerstört. Immer wenn ich an ihn denke, steigt diese Wut in mir hoch. Er kapiert einfach nicht, was er da mit mir gemacht hat.“
Position B: „Mein Vater war total überfordert, als ich in die Pubertät kam, damals habe ich ihn gehasst, jetzt denke ich nicht viel an ihn, aber wenn wir uns sehen, kommen wir miteinander aus.“

Die Unterschiede zwischen beiden Positionen sind nicht durch die faktischen Aktionen zwischen Vater und Tochter bestimmt, sondern durch deren Bearbeitung im bewussten und unbewussten Erleben. Die Erwartungen, bei der nächsten Begegnung eine ganz andere Person zu finden, die z.B. „versteht“, was sie dem Kind angetan hat, hängen mit unbewussten Bildern zusammen.
Das heißt: diesmal ist es die Tochter, die sich bemüht, den Vater zu transformieren. Sie denkt nach, wie sie ihm klarmachen kann, was er ihr angetan hat und was er tun hätte müssen, um ihr eine gute seelische Entwicklung zu bescheren. Sie fasst diese Gedanken zusammen zu Urteilen, wie ein „richtiger Vater“ sein müsste und wie viele Defizite sie ertragen musste, weil er diesem Bild nicht entspricht.
Wenn heute die soziale Kindheit in europäischen Familien länger dauert als die körperliche, ergeben sich nicht nur Konflikte zwischen den Adoleszenten und ihren Eltern. Eine zweite Konfliktquelle sind Dankesschulden, welche die Beziehung zwischen den erwachsenen Kindern und ihren Vätern oder Müttern belasten. Hier wie in vielen anderen Bereichen wird deutlich, dass Zivilisationsschritte die Menschen zwar vor körperlichen Schäden, vor Hunger und Obdachlosigkeit im Alter bewahren, gleichzeitig aber durch sie die seelischen Belastungen wachsen.

Diese seelischen Belastungen ergeben sich daraus, dass mehr imaginäre Elemente in die Kind-Eltern-Beziehung eindringen. In traditionellen Gesellschaften dominiert die physische Nähe von Eltern und Kindern; ohne sie wäre ja die Chance dahin, von den erwachsenen Kindern ernährt und gepflegt zu werden, sobald die eigenen Kräfte schwinden. In den modernen Gesellschaften leben Kinder und Eltern nur noch ausnahmsweise in einem Haushalt. Wo 40jährige nicht ausziehen, denkt der Kliniker an Alkoholsucht oder Psychose.
Je länger die Abhängigkeit des Kindes von den Eltern dauert, desto mehr  (oft nicht in ihrem vollen Umfang bewusste) Phantasien wachsen in den Eltern, das Kind müsste ihnen ihre Mühe danken. Umgekehrt wachsen aber auch in den Kindern ebenfalls zum Teil unbewusste Phantasien, die Eltern müssten dankbar sein, dass sie sich so lange über alle möglichen Hürden gequält haben, um die Erwartungen der Eltern an ihren sozialen Erfolg zu erfüllen. Das Kind hat acht Jahre den Eltern zuliebe Cello geübt; die Eltern haben acht Jahre dem Kind zuliebe Instrument und Musikstunden bezahlt.

Da zudem beide Seiten wenig Gelegenheiten haben, ihre Dankesschulden durch körperliche Präsenz und physische Gaben abzugelten, kommen Eltern ebenso wie Kinder in die therapeutische Praxis, wenn die Kränkungen überhand nehmen, dass eine imaginäre Dankesschuld nicht nur ignoriert wird, sondern sogar Gegenforderungen auftauchen: nicht ich bin dir, nein, du bis mir etwas schuldig geblieben.
Wenn eine Studentin sich nicht zutraut, ihr Lieblingsfach zu wählen, sondern studiert, was ihr die Eltern empfehlen, liegt es an den Eltern, die sie nicht ausreichend in ihrer Autonomieentwicklung unterstützt haben. Wenn sich der erwachsene Sohn in seinem Kinderzimmer einnistet, die alleinerziehende Mutter ihn aus Furcht vor seinen Wutausbrüchen durchfüttert und ihm ihr W-Lan kostenfrei überlässt, liegt das daran, dass sie ihn im Babyalter vernachlässigt hat, weil ihr Freund sie schon während der Schwangerschaft sitzen ließ und sie unbedingt weiter arbeiten wollte. 

Wenn die Tochter mit ihrer Heilpraxis nicht genug verdient, um die Miete bezahlen zu können, liegt es daran, dass die Mutter ihren Beruf aufgegeben hat und als vaterabhängige Hausfrau der Tochter kein Vorbild war, wie man sich durchsetzt.
Wer sich lange unter Psychotherapeuten bewegt, selbst als solcher gearbeitet und später Therapeuten ausgebildet hat, kann nach meinen Eindrücken eigentlich der Scham nicht entgehen, dass seinesgleichen und womöglich er selbst zu Konstruktionen einer Schuld der Eltern  beigetragen hat. Die Psychoanalyse hat zwar die längste Geschichte, was die Einsicht in die Dynamik einer idealisierenden Übertragung angeht. Aber das bedeutet keineswegs, dass Psychoanalytiker konsequent darauf verzichten können, eine zugewiesene Rolle als die besseren Eltern unkritisch anzunehmen, statt sie kritisch zu befragen.
Wenn ein Therapeut unsicher ist, ob seine Arbeit Früchte trägt, wenn er an sich selbst zweifelt und diesen Zweifel nicht sinnvoll und produktiv findet, sondern mit Schuld- und Schamgefühlen auf ihn reagiert, dann stehen ihm zwei Auswege offen. Er kann selbst die Abstinenz verletzen und hoffen, bei seinen Klienten Trost zu finden, oder aber er kann (meist gemeinsam mit den Kranken) die Eltern seiner Patienten schwarz malen, um aus dem Kontrast zu diesen heller zu leuchten. Die defensiven Eigenschaften solcher Manöver sind in ihrer Schwarz-Weiß-Zeichnung und im Mangel an Selbstreflexion abzulesen. Aber gerade diese Qualitäten machen auch ihre Faszination aus.

Wie wir von guten Eltern alles Gute erhoffen, können wir fehlerhafte Eltern  immerhin für alles Böse verantwortlich machen. Wer Prestige hat und Sinn stiftet, muss eine reine Gestalt sein. Er weckt Neid, der in voller Wut losbricht, wenn er sich als eigennützig entlarven lässt. Die nun sich selbst ernennenden Richter projizieren auf ihr Feindbild ein Stück eigener narzisstischer Unersättlichkeit. Sie selbst sind sich – mit gutem Grund – der Reinheit ihrer Motive nicht ganz sicher. Aber solange sie eindeutige Teufel bekämpfen, stehen sie fleckenlos da.
Die erwachsenen Kinder halten das Bild von Eltern fest, die  stark und differenziert genug wären, um bei gutem Willen und entsprechendem Einsatz der nächsten Generation genau das zu geben, was ihr fehlt. Leider entziehen die Eltern sich böswillig oder gleichgültig dieser Aufgabe. Sie verweigern dem Kind etwas, auf das es ein Recht zu haben glaubt: Eltern, die so stark und einsichtig sind, wie man sie gerne hätte.

Die Tochter hat ein Psychologiestudium abgeschlossen. Sie lebt in einem Dauerkonflikt mit ihrer Mutter, die nach langen Arbeitsjahren als Hilfskraft in der Paketsortierung in Rente ist. Die Tochter erscheint mit rotgeweinten Augen in ihrer Analyse. „Ich habe meine Mutter besucht, bin eigens die vierhundert Kilometer gefahren, und was hat sie gemacht? Sie hat mir einen Geldschein zugesteckt. Ich will doch kein Geld von ihr, ich verdiene selbst genug, ich will, dass sie endlich versteht, wie ich lebe und was ich geleistet habe! Aber das interessiert sie nicht, sie fragt nur, wann ich endlich schwanger bin, weil sie sich ein Enkelkind wünscht. Ich habe das Geld natürlich nicht genommen, aber ich hatte dann doch ein schlechtes Gewissen, als ich sah, wie sie das gekränkt hat. Aber ich bin es leid, mich selbst zu verleugnen, nur damit sie glaubt, es sei alles in Ordnung.“

Im Erleben der Tochter ist die Mutter zur Psychologin mitgewachsen. Gleichzeitig vertieft die Mutter, ohne um diese Verletzung zu ahnen, eine Wunde im Selbstgefühl der Tochter. Diese hat sich bisher nicht zugetraut, schwanger zu werden; die Männer, die sich an sie binden wollten, fand sie uninteressant, zu weich, während die Männer, mit denen sie sich Kinder vorstellen konnte, selbst gebunden waren und ein sexuelles Abenteuer suchten. Hätte die Mutter Verständnis für diese Probleme? Sicher ist das nicht, aber die Tochter versucht gar nicht, ihre Geschichte zu erzählen.
Die Tochter hält umso energischer an einem Mutterbild fest, das ihr ebenbürtig ist, je weiter sie sich seit ihrem Eintritt in eine höhere Schule und ihrem Studium von der realen Mutter entfernt hat. Die Psychologin erinnert mit heftiger Scham, wie sie in den ersten Gymnasialklassen die Mutter entwertete und sich versteckte, wenn diese einmal vorbei kam um sie abzuholen. Erst wenn die Kameradinnen verschwunden waren, wagte sie sich aus ihrem Versteck und näherte sich der Mutter wie einer Fremden. Neben den Müttern ihrer Klassenkameradinnen wirkte die Hilfsarbeiterin plump. Sie war schlecht gekleidet und wusste nichts von small talk.   Die Tochter wünschte sich eine andere Mutter, sie schämte sich dieser Frau und fühlte sich schuldig über diese Scham. Sie lernte fleißig, um zu verhindern, dass die Schule Kontakt zur ihren Eltern aufnahm. Sie fälschte die Unterschrift der Eltern unter die Mitteilungen über Elternsprechtage, weil sie vermeiden wollte, dass ihre Lehrer die Mutter kennen lernten. Das fiel nie auf, da die Eltern getrennt waren, der Vater die Tochter nur selten sah und die Mutter erleichtert war, wenn sie ihre Ruhe hatte.
Die Tochter hätte das Rüstzeug, die Mutter zu verstehen und die Differenz zwischen der eigenen und der Entwicklung der Mutter wahrzunehmen. Sie unterdrückt diese Möglichkeit, um ihre Schuldgefühle abzuwehren, dass sie es nicht nur weiter gebracht hat als ihre Mutter, sondern dass sie ihr tatsächlich geistig überlegen ist. Sie ist doch nicht eingebildet! So leugnet sie die Differenz zur Mutter und erklärt sich deren begrenztes Verständnis als Desinteresse, gar bösen Willen: die Mutter ignoriert ihr Studium und macht der Tochter klar, dass sie keine richtige Frau ist.

So  erwarten erwachsene Kinder ihre eigenen Stärken von den Eltern. Besonders ausgeprägt scheint das im Mutter-Tochter-Verhältnis. Verglichen mit dem Mutter-Sohn-Verhältnis und der Vater-Tochter-Beziehung sind Mutter und Tochter einander primär näher. Sie reagieren auf Aggressionen mit Schuldgefühlen und verstärktem Bemühen, das Gegenüber von ihren absolut guten Absichten zu überzeugen.

»Dauernde Angst macht unglücklich«

SZ Magazin: Nach 1918 sind viele Menschen an Depression erkrankt, die die Spanische Grippe überlebt hatten. Wie ist das zu erklären?

In Zeiten der Rekonvaleszenz werden viele Leute depressiv, deswegen macht man ja auch Rehabilitationen. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es außerdem unglaublich viele Umbrüche: Wer da nicht ganz fit war, war anfälliger für Depressionen. Soldaten sind das ohnehin, sie haben leicht das Gefühl, das Vaterland vergilt ihnen ihr Leid nicht. Die Integration der Soldaten im Frieden ist nach jedem Krieg ein Riesenproblem. 

Ist so eine Häufung von Depressionserkrankungen auch durch Corona zu erwarten?

Das ist sehr schwierig zu vergleichen, auch weil damals unglaublich viele junge Menschen gestorben sind, während Covid 19 ja vor allem durch die Gegenmaßnahmen das öffentliche Bewusstsein geprägt hat. Vergleichbar wäre allenfalls, dass im Weltkrieg der manische Fortschrittsglaube zusammengebrochen ist, der die „Gründerzeit“ geprägt hatte, und heute der manische Wirtschaftswachstumsglaube zusammenbricht, nicht allein wegen Corona, auch wegen des Klimawandels und der langsamen Krise der Verschwendungs- und Müllwirtschafterei.

Wann wird man depressiv?

Vor Depression schützt ein Gefühl der Selbstwirksamkeit: Ich kann irgendetwas machen. Der Mensch ist so konstruiert, dass er in der Früh mit Hunger aufwacht. 99 Prozent unserer Existenz auf der Erde war das so. Der Mensch erwachte hungrig und suchte essbare Pflanzen oder jagte. Wenn er etwas gefunden oder  erbeutet hatte, ging es ihm gut. Er konnte etwas machen, um das ungute Gefühl am Morgen selbstwirksam zu beseitigen. In der Zivilisation fällt das weg, stattdessen wacht man auf und macht sich Sorgen. Sobald die Sorgen sich multiplizieren, läuft man Gefahr, die negative Stimmung nicht mehr loszuwerden. Arbeitslosigkeit, Verlust von Angehörigen, Stress in Beziehungen – das sind dann die Auslöser von Depressionen, einer typischen Krankheit der Moderne. 

Der ursprüngliche Zustand des Menschen ist also einer der Unzufriedenheit und des Unglücks?

Nein. Hunger ist kein Unglück, Hunger aktiviert. Dauernde Angst macht unglücklich. Chronische Angst bedeutet großen Stress. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war ein unglaublicher Zivilisationsbruch. Der Glaube an die Moral und den Fortschritt ist da kollabiert. Die faschistische Bewegung kann man ja auch als manische Abwehr dieses Zusammenbruchs verstehen. Aus allen möglichen Bruchstücken – Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus – wurde da eine Weltanschauung gebastelt, mit der man die Niederlage abtun konnte. 

Man nennt die Spanische Grippe auch die vergessene Pandemie.

Damals waren die meisten Menschen durch den Krieg traumatisiert die Pandemie ist quasi auch in dem allgemeinen Umbruch untergegangen und vergessen worden. Es sind viele Leute daran gestorben, gerade junge Menschen, es war viel schlimmer als Corona, aber man hat die Spanische Grippe mit einem heute kaum vorstellbaren Fatalismus hingenommen. Die Menschen litten, aber niemand dachte daran, das Leben stillstehen zu lassen. Man hat die Grippe nicht groß zum Thema gemacht, obwohl die Schulen geschlossen und ein paar andere Maßnahmen ergriffen wurden.

Die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie fanden nicht nur Beifall.

In den Reaktionen wurde ein Generationenkonflikt deutlich: Die Kritiker der Maßnahmen unter den Epidemiologen  waren älter, sie meinten, wenn es den Test nicht gäbe, hätten wir das hingenommen wie eine schwere Grippewelle. Aber es ist viel leichter, zu kritisieren als es richtig zu machen. Ganz neu ist, dass die Infizierten und Toten jeden Tag in der Zeitung stehen, wie während der Olympiade die Medaillen. So entsteht ein enormer Druck.  

So ein Standpunkt wäre doch allenfalls von jungen Virologen zu erwarten gewesen?

Erstaunlicherweise haben die jungen Virologen eben nicht die Interessen ihrer Generation vertreten.

Erst hieß es, Lungenautomaten könnten die meisten Patienten retten, dann zählte man doch viele Tote auf der Intensivstation. Kann die Uneinigkeit unter Virologen über Übertragung und geeignete Gegenmaßnahmen Menschen verzweifeln und depressiv werden lassen?

Es gab viel Latrinenparolen, aber einige Erkenntnisse waren gesichert. Die Möglichkeiten einer Epidemie zu begegnen sind fortgeschritten. Intensivstation bedeutet halt, ungefähr fünfzig Prozent der Patienten sterben. Ohne Intensivstation wären es alle. Die Politik musste sich 1919 nicht um Intensivbetten sorgen, es gab keine. Die Medien haben viel Angst und viel komische Hoffnungen produziert. Ich las einmal, ein Wundermittel sei entdeckt worden: Cortison! Das gab es 1919 nicht, aber heute doch schon eine ganze Weile, und es ist wirklich sehr nützlich, aber kein „Medikament“ gegen Covid 19!  Alles wurde hochgekocht. Bei der Hongkong-Grippe gab es 1968 auch eine unglaubliche Steigerung der Todesrate, ich habe die noch erlebt. Ein, zwei Millionen mehr Tote als in anderen Jahren, aber in der Süddeutschen stand es nur im Kleingedruckten. Die Schulferien wurden verlängert, ich war damals Medizin-Journalist, die Grippe war nicht wichtig, stattdessen hat man über die erste Herztransplantation berichtet. Dass mehr Leute mit chronischer Bronchitis oder eingeschränkter Lungenfunktion oder mit schweren Herz-Kreislauf-Problemen gestorben sind, ganz ähnlich wie heute, hat damals niemanden groß beschäftigt.

Glauben Sie, die Unsicherheit unter Wissenschaftlern ist heute geringer als früher?

Der Druck ist heute viel größer. Die Frage, wie gefährlich ein Virus ist, wurde in der Fachpresse diskutiert. Keine Tageszeitung hat sich dafür interessiert. 

Werden der eingeschränkte soziale Kontakt, fehlende Zärtlichkeit und geringere Kommunikation während des Lockdowns zu einer Zunahme von Depressionen führen?

Ausnahmsweise vielleicht schon einmal, vor allem bei Menschen in Heimen, die plötzlich isoliert werden. Der Lockdown hat sicherlich Stress bedeutet, und Stress ist ein Auslöser von Depression, aber ich sehe eher die Gefahr, dass die wirtschaftlichen Konsequenzen des Lockdowns zu einer Steigerung von Depressionserkrankungen führen könnte. Eine große Spaltung  zeichnet sich in der Gesellschaft ab. Ich kenne einen Sportlehrer – für ihn was der Lockdown bezahlter Urlaub. Und eine Freiberuflerin – sie musste sich arbeitslos melden. Sie ist froh, freiwillig in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt zu haben, denn sonst wäre sie jetzt auf Harz-IV angewiesen. Da gibt es unglaublich deprimierende Einzelschicksale, die überhaupt nicht durch staatliche Hilfen kompensiert werden können. Schon allein weil der Depressionsschutz durch die Selbstwirksamkeit ausfällt – ich verdiene meinen Lebensunterhalt durch etwas, was ich gerne mache. Das kann man nicht jemandem wegnehmen und sagen, du musst mit Harz-IV auskommen! Das ist eine psychische Risikosituation, die letztlich auch die Aggressionsbereitschaft in einer Gesellschaft steigen lässt. Früher haben die Armen bei einer Hungersnot Hass auf die Reichen entwickelt, die sich noch Brot kaufen konnten. Die einen haben durch den Lockdown ihre Sicherheit und Selbstwirksamkeit verloren, die anderen haben sie behalten. Das ist eine große Belastung für den Zusammenhalt. 

Ist Depression nun genetisch veranlagt oder kann sie jeden ereilen, wenn nur der Stress zu hoch wird?

Unter massivem Stress – etwa in einem Vernichtungslager – werden wohl alle Menschen depressiv. Es gibt eine erbliche Disposition, die sich am besten als eine gesteigerte Sensibilität beschreiben lässt. Wenn jemand günstige Lebensbedingen hat, führt diese Veranlagung womöglich zu  Kreativität, Feinfühligkeit, oft auch Tüchtigkeit. 

Sie sprechen jetzt von dem, was man früher Melancholie genannt hat?

Bei Dürer galt sie als Zeichen des tiefen Denkers. Die modernen Lebensbedingungen laufen darauf hinaus, dass ein unerfüllbares Versprechen von der Gesellschaft gemacht wird, nämlich: Wenn du dich anpasst und deine Aggressionen unterdrückst, deine emotionale Autonomie einschränkst, wenn du also alles immer richtig machst und gute Noten schreibst und tust, was deine Vorgesetzten dir auftragen, dann wirst du glücklich werden. Ich sage überpointiert: Wer im Leben alles richtig macht, wird nicht glücklich, sondern depressiv. Es gibt Statistiken, welche Berufe besonders häufig unter Depressionen leiden und  besonders oft Anti-Depressiva verschrieben bekommen.  Das sind in Deutschland die Altenpfleger und die Mitarbeiter in den Callcentern. Kann man sich auch gut vorstellen, die kriegen sehr viele Aggressionen ab, müssen aber ständig freundlich bleiben. Ganz ähnlich in der Altenpflege. Das ist ein Beruf, der sehr viel Disziplin gegenüber den eigenen Aggressionen verlangt. Ein Kind ist dankbar, wenn man es versorgt, alte Menschen würden das lieber selbst machen und sind eher undankbar und  wütend. Kein Wunder, dass Altenpfleger dreimal so oft an Depressionen leiden wie der Durchschnitt.

Sie glauben eher nicht an rein körperliche Ursachen für Depressionen? Also auch nicht an die Wirkung von Anti-Depressiva?

Das Modell einer genetisch bedingten Stoffwechselstörung, die durch Anti-Depressiva geheilt werden kann, ist ein Mythos.   Wissenschaftlich ist das nicht haltbar. Das Entweder-oder mit körperlicher Ursache auf der einen, seelischer auf der anderen ist Unsinn. Alles Seelische ist auch körperlich, das ist eine veraltete Diskussion. Genauso wie die Frage, ob Intelligenz angeboren oder durch die Umwelt gefördert ist. Sie ist immer beides. 

Das heißt, Sie sprechen sich nicht in jedem Fall gegen Antidepressiva aus?

Ich persönlich halte nicht viel von ihnen und würde sie nicht schlucken. Es gibt Studien, dass sich ihre Wirkung wenig von der durch Placebos unterscheidet, aber es gibt Einzelbeobachtungen von Patienten, denen es damit wirklich besser geht,  das will ich nicht wegdiskutieren. Außerdem gibt es auch eine psychologische Komponente in der Medikation: Normalerweise nimmt der Depressive die Haltung ein, dass er sich mehr anstrengen müsste, weil er sich für faul hält, einen Drückeberger. Der Patient hat ein schlechtes Gewissen. Was mit Medikamenten behandelt wird, ist nun eine echte Krankheit. Er muss sich  nicht mehr vornehmen, sich mehr zusammenzureißen, sondern er ist wirklich krank, das bedeutet eine große Entlastung auf psychologischer Ebene.

Haben Sie als Therapeut nie Antidepressiva verschrieben?

Ich bin Psychologe und Psychoanalytiker, ich mache Gruppen- und Paartherapie. Ich darf gar keine Medikamente verschreiben, ich fände es auch nicht richtig, da sie oft Nebenwirkungen haben und man was vom Stoffwechsel verstehen muss, um die einzuschätzen.   Die Behandlung der Wahl ist Psychotherapie, das sagen auch die Wissenschaftler in der Medizin. Was die Praktiker dann tun, um die depressiven Patienten ohne viel Zeitaufwand zu versorgen, steht auf einem anderen Blatt und dient vor allem den Interessen der Pharma-Industrie. 

Ist das erste Ziel einer Therapie bei Depression, die Lebensumstände zu verändern, um wieder das, was Sie Selbstwirksamkeit nennen, erfahrbar werden zu lassen? Raten Sie dem Callcenter-Mitarbeiter nicht sofort zum Jobwechsel?

Zuerst muss die Psychotherapie erkennen, wie verarbeitet jemand seine Situation. Wenn er akzeptiert, dass die Situation viele Belastungen mit sich bringt, dann ist sie leichter zu  ertragen, als wenn man denkt, ich bin ein Versager. Wenn man die Lebenssituation als schwierig akzeptiert, fällt es einem leichter, eine Lösung zu finden und sich neu zu orientieren. Das moderne Leben übt auf die Psyche einen Raubbaudruck aus. Der Anpassungsdruck im  Job produziert eine  riesige Abhängigkeit. Der Mann, der den Spruch „I love NY“, erfunden hatte, ist gerade gestorben. Er hat mal zehn Thesen veröffentlicht, wie man als Kreativer leben kann. Er zitiert darin  John Cage, der im Alter von 74 gefragt wurde, wie man zufrieden altert. Cage sagte: „Nimm niemals einen Job an. Schau dass du jeden Tag das Frühstück für deine Kinder auf den Tisch bekommst, und das ist es dann. Mehr ist nicht zu tun.“ Das hat mich an die Geschichte der Jäger und Sammler erinnert. Aufwachen und schauen, was man jagen kann, und nicht denken, dass der Arbeitgeber dafür schon sorgen wird.  Die Idee dahinter ist, dass man sich nie völlig abhängig machen und nie glauben darf, alles wäre sicher. „Wenn ich alles richtig mache, dann bleibt die Welt, wie sie ist.“ – Diese Lebenseinstellung führt zu großen Enttäuschungen. Auch in Liebesdingen. „Ich heirate eine Frau, mache alles richtig, bin ganz brav, ein guter Ehemann, stinklangweilig, meint die Frau irgendwann, verliebt sich in jemand anderen und haut nach zehn Ehejahren ab. Und der arme Kerl versteht nicht, warum, er hat ja alles richtig gemacht.

Die trügerische Illusion der Gewissheit. 

Je früher jemand kommt, desto eher lässt sich diese Lebensstrategie noch ändern. „Du hast eine Stoffwechselstörung, die behandeln wir jetzt mit Medikamenten“, ist eine Konstruktion, die jemanden entlastet, der sich zu schwach fühlt, sein Leben noch zu ändern. Ich widerspreche  in so einem Fall lieber nicht und rate nicht: Lassen Sie bloß dieses Gift weg. Das wäre übergriffig. Ich sage stets: Ich verstehe nichts davon. Wenn es Ihnen gut tut, nehmen Sie es. Sollte mich jemand fragen, erzähle ich auch von der dubiosen Wirksamkeit solcher Mittel, aber ich würde nicht die Initiative ergreifen und mich nicht einmischen.

Freiberufler und Künstler sind ja auch nicht frei von Depressionen.

Natürlich nicht. Auch Therapeuten nicht, die jede Menge bürokratischer Kontrollen über sich ergehen lassen müssen. Wir müssen Anträge schreiben und die müssen genehmigt werden. Ich betreue jetzt nur Privatpatienten und bilde aus, ich bin in einer sehr privilegierten Situation, aber natürlich kann ich mich auch nicht darauf verlassen, dass es so bleibt. Irgendwann verschwinden die Privatversicherungen und dann kann es wirklich sein, dass ich Ärger kriege. Aber ich bin jetzt 79 und um jedes Jahr froh, das ich noch arbeiten kann.

Sind Therapeuten tatsächlich besonders disponiert für Depressionen?

Ja, wenn auch nicht so schlimm wie im Callcenter. Es gilt grundsätzlich bei allen Burnout-Erkrankungen: Die Krankenschwester ist gefährdeter als die Ärztin, weil die erste kaum Perspektive auf eine berufliche Entwicklung hat. Die Ärztin kann alles Mögliche machen. Entwicklungsmöglichkeiten schützen vor Depressionen. 

Wie viele Patienten unterziehen sich einer Therapie wegen Depressionen?

Ich denke, das ist die häufigste Diagnose. Ängste und Depressionen. 

Nach Corona wird die Diagnose nicht häufiger gestellt?

Das zu sagen wäre verfrüht. Es ist erwiesen, dass die Zahl der Psychotherapien wegen Depressionen und die Verordnung von Antidepressiva kontinuierlich ansteigen. Durch Corona wird sich der Trend nicht dramatisch verändern, sondern weiter steigen. Ich denke nicht, dass die Virusinfektion als solche irgendwie das Gehirn so angreift, dass die Depressionswahrscheinlichkeit ansteigt. Natürlich ist die Depressionsgefahr auch größer, wenn jemand körperlich krank ist. Jeden Tag eine halbe Stunde zu joggen ist ein unglaublich gutes Mittel gegen Depressionen. Wer sich eine Sehnenzerrung zuzieht und nicht mehr trainieren kann , wird vielleicht depressiv und kommt eventuell auch in Behandlung. Dann muss er versuchen, das Leben neu zu strukturieren.

In Folge der Spanischen Grippe trat noch ein Krankheitssymptom vermehrt auf: die europäische Schlafkrankheit. Sie wurde bis 1925 diagnostiziert, und die Leute waren tatsächlich antriebslos und haben viel geschlafen. In Tansania soll es sogar eine Hungersnot gegeben haben, weil die Leute es versäumt hatten, auf die Felder zu gehen. Könnte uns so etwas wegen Corona bevorstehen?

Die Ursache für diese Hungersnot ist wahrscheinlich ein Rätsel, das man nicht mehr aufklären kann. Augenblicklich gibt es ja eine umstrittene Erkrankung, das chronische Müdigkeitssyndrom, das auch mit Viren in Verbindung gebracht wird: Wenn jemand nach einem überstandenen Pfeifferschen Drüsenfieber 18 Stunden täglich schlafen möchte, und sein Studium, sein Leben verpasst. Heute sind die Ursachen für diese Erkrankung umstritten.  Vor vierzig Jahren gab es darüber noch einen Konsens, da hat man das Müdigkeitssyndrom als psychogen erklärt. 

Psychogen?

Seelisch bedingt. Man untersuchte die Leute, fand nichts, also mussten sie zum Therapeuten. Irgendwann ist das Virus nicht mehr aktiv, die Leute unterscheiden sich in ihrem organischen Zustand nicht von Leuten, die nicht müde sind. Ob es dann wirklich an der Psyche liegt, das weiß ja niemand so genau. Genauso wenig wie beim Beispiel der Hungersnot in Tansania, das eine Spätwirkung dieser Virusinfektion gewesen sein könnte oder vielleicht die Folge einer misslungenen psychosozialen Aufarbeitung. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass ein Bauer seine Felder nicht bestellt, weil er sich müde fühlt. Das ist ja auch ein sehr selbstwirksamer Beruf. Da müsste man sich in die Sozialstruktur zu Zeiten des Kolonialismus vertiefen, um die Arbeitsbedingungen der Bauern genauer kennenzulernen. Die Psychiatrie ist ja auch ideologisch gefärbt. In den amerikanischen Südstaaten gab es eine Diagnose mit dem Namen Drapetomanie. Die wurde bei Sklaven gestellt, die davonlaufen wollten. Für die war der Psychiater zuständig. Im deutschen Konversationslexikon der Jahrhundertwende finden Sie diese Krankheit noch beschrieben. Heute würde man diese  Drapetomanie als angemessene Reaktion auf Sklaverei ansehen. 

Wieviele Formen von Depressionen unterscheiden Therapeuten?

Die Klassifikationen haben etwas Fliegenbeinzählerisches. In der Praxis unterscheidet man keine Formen, sondern behandelt den individuellen Kranken. Es gibt unterschiedliche Schweregrade. Die larvierte Depression, die sich in körperlichen Symptomen äußert, die leichte Depression, von der man auch als depressive Reaktion spricht, und dann die schwere Depression, die mit einer ausgeprägten Lähmung einhergehen kann. Wenn beispielsweise eine Patientin erzählt, dass sie sich zum Frühstück setzt und irgendwann guckt sie auf die Uhr und es ist mittag – das ist dann schon ziemlich heavy.

Können Depressionen ganze Gesellschaften befallen und in einem kollektiven Gedächtnis über längere Zeit wirksam bleiben?

Ich glaube da nicht dran. Alles, was psychologisch ist und mit kollektiv verbunden wird, ist meines Erachtens immer eine sehr problematische, eigentlich literarische Kategorie. Das kollektive Unbewusste von C.G. Jung ist etwas Poetisches, das kollektive Gedächtnis ist ein literaturwissenschaftliches Konzept. Naturwissenschaftlich würde ich sagen: Es gibt Menschen, die haben ihr Gedächtnis und es gibt soziale Strukturen und historische Ereignisse, die ihr Gedächtnis und Erleben prägen.

Sie glauben auch nicht an ein depressives Zeitalter nach der Spanischen Grippe?

Nein. Nach dem ersten Weltkrieg gab es einen Zivilisationsbruch, in dessen Folge viele Menschen depressiv geworden sind, weil er schwierig zu verarbeiten war. Auch weil davor eine manische Stimmung dominiert hat: In ein paar Monaten ist der Krieg vorbei und wir haben ihn gewonnen. Nach vier Jahren hat man gehungert, es gab viele Tote, die Individuen waren erschöpft und krankheitsanfällig. Ich weiß nicht, warum man für die Erklärung noch Begriffe wie die vom kollektiven Gedächtnis oder depressiven Zeitalter einführen sollte. Beide Begriffe sagen nicht viel. 

Interview: Lars Reichhardt für SZ Magazin Online