In den angeprangerten Äußerungen von Cohn-Bendit kann ich nicht mehr sehen als ein ungeschickt überspitztes, für den heutigen Leser in Bezug auf sexuellen Missbrauch ignorant wirkendes Plädoyer für den einfühlenden Umgang mit der kindlichen Sexualität. Es ist heute ein Konsens unter Entwicklungspsychologen und Psychotherapeuten, dass Kinder vor dem sexuellen Übergriff eines Erwachsenen ebenso beschützt werden müssen wie vor dem sexualfeindlichen, der sich beispielsweise gegen die kindliche Selbstbefriedigung richtet. Allerdings interessiert die Medien (und den Staatsanwalt) die sexuelle Attacke auf ein Kind ungleich mehr als die Prügel, die es für Doktorspiele einstecken muss, oder aber die ebenso unsichtbare wie verbreitete Gleichgültigkeit und Vernachlässigung, die täglich viele tausende von Kindern betrifft.
Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist abscheulich und sensationell. Er wird zu Recht angeprangert, es gibt politische Reaktionen bis hin zum Missbrauchsbeauftragten. Einen Vernachlässigungsbeauftragten gibt es nicht. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut, jedes fünfte Kind scheitert an einfachen Mathe- und Deutschaufgaben. Das ist, wie Felix Berth in seinem nachdenklichen Buch „Die Verschwendung der Kindheit“ sagt, nicht nur beschämend, sondern auch ökonomisch dumm. Wir dürfen nicht aufhören, Kinder von sexuellem Missbrauch zu schützen. Aber wir sollten auch darauf achten, dass in dem geräuschvollen Umgang mit dem einen Verbrechen nicht das umfassendere Verbrechen der Vernachlässigung, der Gleichgültigkeit, der emotionalen und geistigen Verarmung von Kindern untergeht.
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