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Der Stoff aus dem Propheten sind

Genies und Scharlatane

Die soziologische wie die psychoanalytische Untersuchung des Charismatikers sind sich einig, dass Genie und Scharlatan von ihren Zeitgenossen oft nicht unterschieden werden können. Das historische Urteil ist klarer, es bleibt aber dann widersprüchlich, wenn es unter den Urteilenden Macht oder Geld zu verteilen gilt.
Wenn Freud von Anhängern als Genie, von Gegnern als Scharlatan und wissenschaftlicher Fälscher angesehen wird, hängt das damit zusammen, dass Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeuten um öffentliches Ansehen und die damit verknüpften Verdienstmöglichkeiten konkurrieren. Das System hat Tradition: Muslime sehen Mohammed im Paradies; der Christ Dante findet ihn in der Hölle, wo ihn ein Teufel mit dem Schwert mittendurch haut, weil er die Gläubigen gespalten hat.
Der narzisstisch gestörte Charismatiker weist Eigenschaften auf, die wir an vielen Sektengründern studieren können. Die erste ist die Unersättlichkeit einer manischen Abwehr. Die eigene Größe muss dauernd bewiesen werden, sie ruht nicht in sich, sondern kollabiert sofort, wenn sie nicht gesteigert wird. Daher die Tendenz der narzisstisch belasteten Charismatiker zur Missionierung: Weil sie selbst ihrer eigenen Geltung stets wieder unsicher werden, suchen sie Sicherheit dadurch zu gewinnen, dass sie möglichst viele andere überzeugen. Sie müssen immer nach Beweisen suchen, dass sie „gut“ sind, oder Deutungen entkräften, die sie selbst vornehmen und die in ihnen einen Selbstzweifel geweckt haben. Häufig entfalten sie besonders hektische Anstrengungen, um Spaltungen zu „überwinden“ bzw. sich für imaginären Heroismus anerkennen zu lassen.
Während sich die Umstehenden fragen, warum diese Person einfach nicht Ruhe geben kann, warum sie, wenn etwas gut und geordnet funktioniert, alles von Grund auf umstürzen möchte, sieht es für den Betroffenen anders aus. Er fürchtet sich, er glaubt, ins Bodenlose zu sinken, nutzlos zu sein, völlig allein und verlassen, weil es nichts zu kämpfen gibt und keine Not nach ihm schreit. Da erzeugt er lieber selber eine solche, als die Stille zu ertragen.
Scientology ist deshalb im Zusammenhang mit der Frage nach der Religion so interessant, weil es deren ungebrochene Kraft verrät, neue (Phantasie)welten zu nutzen und zu erobern. Die Götter waren Astronauten, die Seelenwanderung erschließt intergalaktische Dimensionen, der menschliche Geist kennt keine Grenzen, auch wenn die Menschheit bisher kläglich versagt hat, in die Weiten des Alls vorzudringen und die Ökologie des Planeten zu stabilisieren.
Mit allen Erweiterungen, welche die Technik der Raumfahrt und die Neurophysiologie verheißen, wächst nicht die Bereitschaft zu Aufklärung, Selbstkritik und Bescheidenheit. Im Gegenteil: Träumer und Visionäre bauen Erleuchtungskonzerne auf, in denen sich die uralte Dynamik der charismatischen Propheten spiegelt.
Wer sich in seiner Haut und in seinem Alltag wohlfühlt, braucht diese Propheten so wenig wie irgendwelche anderen. Wer aber verängstigt und in seinem Selbstgefühl verunsichert ist, dem verspricht die neue, die unbekannte, die sich technisch gebärdende Sekte eine Hilfe, die ihm weder der Psychotherapeut noch der traditionelle Priester geben können.