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Mut zum Versagen?

Die Szene des guten Ratschlags gewinnt ihre Bitterkeit daraus, dass es gerade eine Art verquerer Stolz ist, der den Depressiven daran hindert, es sich besser gehen zu lassen. Das rastlose Mühen, es den Eltern, den Geschwistern, den Kolleginnen und Kollegen, den Vorgesetzten, den Nachbarn recht zu machen, erschöpfen Depressive. Die Ehefrau hat sich einen „schwierigen“ Mann ausgesucht, sie will mit gutem Beispiel vorangehen, sie glaubt fest daran, dass zehn Jahre liebevolle Geduld aus einem selbstbezogenen Macho einen einfühlenden Partner machen werden. Danach ist sie depressiv – es fehlt ihr die Kraft, die aufgewendete Energie abzuschreiben und sich neu zu orientieren.

Wer mit solchen Menschen spricht, wünscht sich oft, sie hätten schon früher, als sie noch an ihre Strategie glaubten, etwas mehr nachgedacht. Aber genau da liegt das Problem: kleine Zeichen der nahenden Krise werden ignoriert, weil die Umkehr doch schmerzlichen Verzicht bedeutet. Ist dann die Krise ausgebrochen, kann sie niemand mehr übersehen, dann mangeln bereits die Ressourcen, um auch nur Bruchteile dessen zu erhalten, was anfangs in der Hoffnung auf Riesengewinne riskiert wurde.

Nicht Angst, nicht Trauer sind das Problem – sie sind Gefühle, die kommen und wieder gehen, wenn sie zugelassen werden. Das Problem ist ihre Abwehr. Wer seine Fehlerhaftigkeit verleugnen muss, riskiert seine Gesundheit ähnlich wie der angeschossene Verbrecher, der so tun muss, als sei er gar nicht verletzt. Auf diese Weise werden aus heilbaren Zuständen schlechter Stimmung solide Krankheiten.

Es geht Retzer aber nicht nur um das positive Denken, sondern auch um die in diesem Denken gesellschaftlich zementierte Abwehr von Fehlerhaftigkeit, von Ängsten und von Trauer. Intensiv und sehr ernsthaft setzt er sich mit den Problemen des Gesundheitssystems und mit den gefährlichen Entwicklungen in einem Kartell aus Interessen der Pharmaindustrie und „biologischer“ Psychiatrie auseinander, in denen Angstzustände und Depressionen nicht in ihren seelischen und sozialen Ursachen erforscht, sondern chemisch zugedeckt werden.

Ein Ärgernis ist hier nicht nur für Retzer schon geraume Zeit der Münchner Psychiater Florian Holzboer, der Depressionen als organische Krankheit „wie Rheuma oder Diabetes“ erklären und entsorgen will. Er wirbt für die Vermarktung von Antidepressiva mit einer schwurbeligen Nervenzellmythologie. Zusammen mit dem umstrittenen Finanzunternehmer Carsten Maschmeyer hat er die Firma HolzboerMaschmeyer-Neurochemie GmbH gegründet.

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