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Kann keine Trauer sein

Immer noch prägt das Trauma der NS-Zeit die Familien

In der „Zeitzeugen“-Serie der Süddeutschen Zeitung erschien am 24.4. 2010 der folgende Artikel in einer gekürzten Version. Hier der vollständige Text.

1945 waren die meisten Deutschen überzeugt, sie seien Hitler nur aus Angst und unter Druck gefolgt. Das kleine schlechte Gewissen, das im Hintergrund so großer Begeisterung geblieben war, das Zweifel angemeldet hatte am Sinn dieser geistigen und emotionalen Blähungen, wurde nach 1945 umgedeutet: Eigentlich war der Gegenwille da gewesen. Er hatte sich nur deshalb nicht durchgesetzt, weil die Nazis zwar wenige, aber sehr mächtig, sehr böse waren. Der große, begeisterte Gehorsam, der Jubel angesichts der nationalistischen Phrasen wurden zum Zwang; die kleinen heimlichen Bedenken zur widerständigen inneren Wahrheit, zur unsichtbaren Flagge.

Dieselbe große deutsche Mehrheit, die Hitler als Autorität anerkannt und Gefolgschaft geleistet hatte, litt nach 1945 unter einem inneren Zusammenbruch, der den äußeren überdauerte. Im Wirtschaftswunder wurde er bemäntelt und übertüncht. Die Ausrede, dass Hitler sie verraten und in heilloses Unglück geführt habe, tarnte eigene Verluste an glaubwürdigen inneren Strukturen. Die willige, ja begeisterte Preisgabe des Rechtsstaates ab 1934 wurde im Nachhinein als erzwungene Duldung eines bösen Regimes ausgelegt. Innere Emigrationen wurden fortgeschrieben; es gab bis in die 70er-Jahre einen breiten Konsens, alles ruhen zu lassen, was solchen Selbstmythisierungen widersprach.

So kam es, dass die Emigranten, die auf niederträchtigste Weise enteignet und denunziert worden waren, nach ihrer Rückkehr ein Volk von Opfern vorfanden, das sich nicht an seine begeisterte Anhängerschaft an Hitler als Träger der besten deutschen Werte erinnern konnte. Von der Begeisterung für die Propagandalügen von 1935 wollte niemand mehr etwas wissen; an die Verzweiflung über das Versagen des Führers und seiner wenigen unbelehrbaren Anhänger in der Niederlage erinnerten sich alle.

Unter Traumatisierten

Im Mai 1945 war ich vier Jahre alt geworden. Der Krieg war, das schaute ich den Erwachsenen ab, wie eine Naturgewalt über uns hereingebrochen. In meiner Familie gewann die Überzeugung, dass sich das deutsche Böse vollständig gegen das Böse der Feinde aufhob, ihren Sinn und ihre emotionale Berechtigung daraus, dass mein Vater gefallen war. Der Witwe und uns Halbwaisen konnte niemand den Opferstatus absprechen. Vielleicht erklärt das auch, weshalb ich als Kind nie Hassgefühle gegen den russischen Scharfschützen empfand, der im Januar 1944 meinen Vater getötet hatte, als dieser versuchte, den Rückzug seiner Kompanie aus der Ukraine zu organisieren.

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