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Sexuelle Gewalt und männlicher Narzissmus

Nicht nur unter Migranten drohen Entgleisungen, wenn sich Männer als Verlierer im sozialen Fortschritt erleben

Die Silvesternacht in Köln, ein paar Wochen vor dem Karneval, Feierlaune, Betrunkene, die nicht vorsichtig genug mit ihren Böllern und Raketen umgehen – und plötzlich kippt die Szene, wird zum sexualisierten Mobbing, zur spontan organisierten männlichen Kriminalität gegen Frauen. In der Folge schrille Fragen nach dem Zusammenprall von Kulturen, dem Umgang mit Migranten. Auf Veranstaltungen der rechten Szene wird ein T-Shirt verkauft, auf dem eine Frau vor Männern flieht; Text: Rapefugees not welcome. Die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof haben ein Phänomen nach Deutschland transportiert und unter ein politisches Vergrößerungsglas gelegt, das sich an vielen Orten in der Welt schon geraume Zeit beobachten lässt. In Indien wird eine Studentin in einem Bus vergewaltigt und gefoltert. In Nigeria leiden ganze Provinzen unter den Entführern und Vergewaltigern von Boko Haram. Die gang bangs in Elendsvierteln weltweit? Es scheint neue Hindernisse in der Zivilisierung der männlichen Sexualität zu geben, Rückschritte, die das Motto der Hippies von 1968 geradezu umdrehen. Wo es einst hieß make love not war, wird jetzt sexuelle Gewalt kulturkämpferisch instrumentalisiert.

Die Übergriffe signalisieren eine frauenverachtende Aggressivität; die sich frei bewegende Frau wird zum Sündenbock für sexuelle Defizite der Angreifer, für das Scheitern einer männlichen Omnipotenzphantasie.

Kastraten und Männer

Im europäischen Bildungsbürgertum gehört Beethovens neunte Sinfonie mit dem Chortext „Freude, schöner Götterfunken“ aus der Feder des zitatenträchtigsten deutschen Dichters Friedrich von Schiller zum Neujahrs-Ritual. Das sind, anders als die Böller der bösen Buben, die Töne, die man sich wünscht und gerne zelebriert. Aber derselbe Schiller hat in einem seiner frühen Gedichte über „Kastraten und Männer“ die latent aggressive Männlichkeit in einer Weise besungen, die uns gänzlich von der Illusion befreien könnte, solche Haltungen seien ausschließlich Eigentum krimineller Elemente aus Nordafrika. Ich zitiere einige Strophen, die den Ton treffen.

Zu Gottes schönem Ebenbild
Kann ich den Stempel zeigen
Zum Born, woraus der Himmel quillt
Darf ich hinunter steigen.

Und wohl mir, daß ich’s darf und kann!
Gehts Mädchen mir vorüber
Ruft’s laut in mir: Du bist ein Mann!
Und küsse sie so lieber.

Und röter wird das Mädchen dann,
Und ’s Mieder wird ihr enge –
Das Mädchen weiß, ich bin ein Mann
Drum wird ihr’s Mieder enge.

Fazit: Das Mädchen muss begeistert sein, endlich einen Mann zu sehen. Wenn es aber nicht begeistert ist?

Wie wird sie erst um Gnade schrein,
Ertapp ich sie im Bade?
Ich bin ein Mann, das fällt ihr ein,
Wie schrie sie sonst um Gnade?

Ich bin ein Mann, mit diesem Wort,
Begegn‘ ich ihr alleine,
Jag ich des Kaisers Tochter fort,
So lumpicht ich erscheine.

Schillers Gedicht ist nach der französischen Revolution und vor dem ersten „bürgerlichen Gesetzbuch“, Napoleons Code Civile entstanden. Der Dichter verarbeitet eine Situation, in der Männer und Frauen ihre Verhältnisse ebenso neu regeln müssen wie die Gefahren, dass diese entgleisen.

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