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Die Ängste der dritten Generation

Dieses Interview erschien 2010 in der Zeitschrift NEON; es basiert auf dem Buch „Ein Land – Drei Generationen. Psychogramm der Bundesrepublik“, erschienen im Herder-Verlag 2009

Sie nennen die jungen Erwachsenen von heute »Generation Angst«. Was meinen Sie damit?
Ich arbeite seit mehr als dreißig Jahren als Psychoanalytiker – und stelle fest, dass die Menschen in dieser Zeit sehr viel ängstlicher geworden sind. In früheren Therapiegruppen etwa waren die Leute viel unangepasster; haben Aggressionen geäußert, sexuelle Beziehungen miteinander angefangen. Heute sind sie sehr viel vorsichtiger, haben Angst, jemanden zu kränken oder von den anderen Teilnehmern gemobbt zu werden. Die Kränkbarkeit nimmt unglaublich zu – bis hin zu klinisch relevanten Ängsten.

Was für Ängste sind das?

Vor allem soziale Ängste: vor festen Beziehungen, vor Nähe, vor Festlegung. Ich erlebe viele Leute, denen der Partner, den sie haben können, nicht gut genug ist, und die sich stattdessen nach einem unerreichbaren sehnen. Es gibt immer mehr junge Männer, die noch nie eine Beziehung hatten. Oder, auch ein klassischer Fall: ein Patient, dessen Freundin ein Kind wollte, erzählte mir, was er deswegen alles für Ängste hatte; eine ganze Liste von Unsicherheiten und Störungen, die er an sich selbst beobachtet hatte. Er habe eine empfindliche Haut und bekomme leicht Sonnenbrand, und all das würde das Kind auch bekommen, und überhaupt sei die Beziehung nicht perfekt, und mit dem Kind würde alles noch schlimmer werden. Die Angst hat wie ein Radar alles nach Gefahren abgesucht, und ihn regelrecht gelähmt.

Woher kommen diese Ängste?
Im Grunde ist Angst ja etwas Lebenswichtiges; wer keine hat, ist gefährdet. Nun haben sich aber dadurch, dass die Gesellschaft so kompliziert geworden ist, auch die Ängste vervielfacht. Alles, was ich habe, verschafft mir ja zunächst Sicherheit, und dadurch stellt sich ein Niveau des Lebens her, auf dem ich mich geborgen fühle. Je mehr wir haben, desto mehr können wir verlieren; desto mehr weiten sich die Grenzen aus, die wir bewachen müssen – und desto mehr fürchten wir, es könnte etwas passieren, was unser hoch elaboriertes Lebenskartenhaus zusammenstürzen lässt.

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