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Amok im Alltag

Sie wird jetzt über fünf Jahre ins Gefängnis kommen; die beiden Töchter müssen auf ihre Mutter verzichten, die wohl auch noch die Approbation verliert. Das ist, gemessen an dem Schaden des Opfers, eine milde Strafe. Aber über die Tragik des Einzelschicksals und die Ambivalenz des helfenden Berufs hinaus ist die Amokfahrt am Ammersee noch unter einem anderen Blickwinkel interessant: als krasse Verdeutlichung, dass es in unserer öffentlichen Kultur an der Bereitschaft mangelt, Konflikte nicht zu steigern, sondern zu mäßigen.

In dem Beispiel hätte der Radfahrer anhalten, sich entschuldigen, auf seine provozierende Geste verzichten können – und wäre mit gesunden Knochen davon gekommen. Der Passant hätte die Autofahrerin zur Ruhe mahnen und nicht noch aufhetzen können. „Mei, dem hots pressiert!“ So oder ähnlich zu sprechen geböte die viel gerühmte bayerische Gemütlichkeit, die hier wie überall sonst schwindet. Und die langsamen seelischen Prozesse, Einfühlung und Einsicht in die Begrenztheit unserer Rechthaberei, hätten sich auch diesmal gegen die schnellen Affekte von Angst und Wut durchgesetzt: „Das kann ich mir nicht gefallen lassen! Den kriege ich!“

Seit das Wadelbeissertum nicht zur Ausnahme, sondern zur Regel in der politischen Debatte geworden ist, wird der einzelne Amok-Exzess von einer ganzen Kultur getragen, in der niemand mehr daran zu denken scheint, wie dumm und primitiv es ist, einem Gegner alles Gute abzusprechen und sich selbst in dessen sicherem Besitz zu blähen.

Die politische Klasse demontiert sich, wenn jeder den anderen auf den bösesten Nenner bringt und ihm zuerst Dialogunfähigkeit, nachher aber Verrat vorwirft, wie jüngst nach der Wahl-Qual in der Bundesversammlung. Ich warte schon lange darauf, dass einmal ein Politiker öffentlich sagt: Wir haben unterschiedliche Positionen, aber gemeinsame Interessen, lasst uns darüber reden und eine Lösung finden, von der wir beide etwas haben.

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