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Empathie, ersehnt und überschätzt

Zoologisch gesehen, ist der Mensch die erfolgreichste Art. Er hat sich über die ganze Erde ausgebreitet, die Lüfte erobert und in den Tiefen der Meere nach begehrten Rohstoffen gebohrt. Dieser Erfolg ist maßlos und beängstigend. Tschernobyl, schmelzende Gletscher, mehr Überschwemmungen und Wirbelstürme als je zuvor, dazu das Wissen, dass die fortgeschrittenen Zivilisationen bis zu sechsmal mehr Energie verbrauchen als sich regeneriert, – solche Bilanzen führen direkt zum Galgenhumor.

Venus trifft Erde. „Du siehst krank aus!“ sagt sie.
„Ich habe Menschen“, stöhnt Erde.
„Das vergeht!“ sagt Venus.

In solchen Stimmungen suchen wir nach Halt und gehen mit Ergebnissen der Gehirnforschung um wie die Zeichendeuter der Antike mit den Eingeweiden der Opfertiere. Anders lässt sich die enorme Aufblähung einer banalen und vieldeutigen Entdeckung, die der italienische Neurobiologe Giacomo Rizolatti vor gut zehn Jahren in Parma gemacht hat, nicht verstehen. Rhesusaffen-Gehirne und auch menschliche Gehirne reagieren auf die Wahrnehmung von Bewegungen und auf andere Eindrücke so, als ob diese Eindrücke bzw. Bewegungen sie selbst beträfen.

Das Wissen ist nicht neu; neu ist nur, dass es mit den heutigen Methoden des Gehirnscans sichtbar gemacht werden kann. Wer einmal Säuglinge beobachtet hat, der weiß auch, dass das menschliche Gehirn über eine angeborene Fähigkeit verfügt, Bewegungen der Mutter wahrzunehmen und diese nachzuvollziehen. Identifizierung und Idealisierung sind bei weitem die effektivsten Methoden, sich Neues anzueignen. Wer eine Fremdsprache erlernen will, tanzen oder golfspielen – er kann nichts Besseres tun, als sich in seinen Lehrer oder seine Lehrerin zu verlieben und zu versuchen, möglichst zu werden wie diese.

Die Gehirnforscher sprechen von Spiegelneuronen. Da gegenwärtig nichts mehr als die Gehirnforschung lockt, eigenen Wertvorstellungen ein unantastbar solides Fundament zu verschaffen, werden gleich Bücher geschrieben über das „empathische Gehirn“, als wüssten wir erst jetzt, dass Mitgefühl und Empathie eine biologische Grundlage haben wie andere emotionale Reaktionen auch. Die Begriffskombination von Empathie und Nervenzentren soll den Eindruck erwecken, Einfühlung sei nicht oberflächliches Produkt von Erziehung und Konvention, sondern tief im Gehirn verwurzelt, daher unantastbar, mächtig, ein Garant für eine gute Entwicklung der Menschheit.

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