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Berufsrollen unter Druck

Das Beispiel vom kleinen Massai zeigt, wo die Bruchzone in der Professionalität ansetzen kann: in dem Widerspruch zwischen formaler und persönlicher Qualifikation. Wer formal qualifiziert ist, ohne dass sich diese Qualifikation in der konkreten beruflichen Situation erfolgreich auswirkt, greift nicht selten zu destruktiven Mitteln, welche die Arbeitsleistung insgesamt schwächen. Hier ein zweites Beispiel dafür, das ich einer Supervisandin aus dem Justizvollzug verdanke.

Der  Gefangene auf dem Dach

Ein junger Häftling hatte Tabak geschnorrt und war, als er keine Gegenleistung herausrückte, beim Hofgang verprügelt worden. Er kletterte über ein Baugerüst in einen zweiten Hof und von dort auf das Gefängnisdach.  Ein Vollzugsbeamter, Berufsanfänger, kaum älter als der Häftling,  entdeckte nach einer Stunde den Ausreißer und redete ihm zu: es sei kalt, ob er nicht lieber wieder herunter kommen wolle. Der Häftling kletterte wieder herunter.

Inzwischen hatte ein anderer Beamter den Sicherheitsdienst alarmiert – die gefängniseigene, nachkampftrainierte Truppe, für Gewaltanwendung in solchen Fällen bestens ausgerüstet und motiviert. Ein Mann für solche Spezialeinsätze, groß und kräftig, stellte den Vollzugsbeamten zur Rede: weshalb er das Problem gelöst habe, statt die zuständigen Beamten zu alarmieren. Der Vollzugsbeamte redete dagegen. Der Sicherheitsbeamte drohte ihm Ohrfeigen an.

Der Vorgesetzte verdonnerte den Vollzugsbeamten, der den Häftling mit sanfter Rede vom Dach geholt hatte, ebenso wie den Beamten, der den Sicherheitsdienst alarmiert hatte, zu einem ausführlichen schriftlichen Bericht. „Warum soll ich jetzt einen Bericht schreiben und nicht der Sicherheitsmann, der mir eine runterhauen wollte?“  fragte der junge Vollzugsbeamte die Sozialpädagogin, die den Ausreisser betreute.

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