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Bestrafte Treue

Spontan würde jeder Mensch davon ausgehen, dass er besser behandelt wird, wenn er über lange Zeit hin das Vertrauen aufgebaut hat, ein verlässlicher Partner zu sein. In jedem orientalischen Basar bekommt der Vertraute die Warte günstiger als der Unbekannte. Unsere modernen Marketing-Strategen machen es genau umgekehrt: Je neuer der Kunde, desto günstiger der Preis. Wer nicht ständig bereit ist, die vertraute Geschäftsbeziehung in Frage zu stellen, bleibt der Dumme.
Eigentlich könnte ich schon länger wissen, dass sich Treue nicht mehr lohnt. So abonniere ich seit Jahrzehnten eine große Tageszeitung und habe noch nie eines der Geschenke erhalten, mit denen jeder Neu-Abonnent rechnen kann, keine Kamera, kein Mountainbike. Ich weiß von einem Bekannten, dass er einen Abonnenten-Tauschring für diese Zeitung und auch noch für den Spiegel unterhält, in dem immer wieder scheinbar neue Kunden geworben und alte Abonnements gekündigt werden. Er liest die Zeitung so regelmäßig wie ich, hat sich aber eine Reihe von Geschenken organisiert, den Dank für simulierte Untreue.
Auch die Treue zu meiner Sparkasse ist ein Irrtum. Für sie zahle ich überhöhte Gebühren; als Neukunde anderswo käme ich günstiger weg.
Psychoanalytisch gesehen, ist Vertrauen in die Treue unserer Mitmenschen eine Gabe, die mit der Bewältigung kindlicher Unsicherheit zusammenhängt. Wer die Chance hatte, einen Elternteil als gut genug in das eigene Innere aufzunehmen, der gewinnt ein Vertrauen in die eigenen Zukunftsentwürfe, das es ihm sehr erleichtert, das Leben anzugehen. Wenn er einen Menschen liebt, wird dieser ihn schon auch lieben. Wenn er Freundschaft anbietet, wird er sie erhalten.
In der modernen Gesellschaft wird hier ein Gedanke von Niklas Luhmann wichtig. Wo der Mensch angesichts der immensen Komplexizität der Moderne nur noch einen Bruchteil der Personen, Dienstleistungen oder Waren einschätzen kann, wird Vertrauen ein Mechanismus, um soziale Komplexität zu reduzieren, eine „riskante Vorleistung“. Wo die Vernunft an Grenzen stößt, weil alles unübersichtlich ist, schenkt Vertrauen die intuitive Entscheidungsmöglichkeit. Wo aber Treue nicht belohnt wird und sich Misstrauen als ökonomische Tugend in den Vordergrund drängt, müssen wir uns nicht wundern, wenn beispielsweise die Wähler den Politikern nicht mehr trauen und alle Institutionen in den Verdacht geraten, korrupt zu sein.

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