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Kleists Narzissmus

Freud fasst zusammen: „Ein Anteil des Selbstgefühls ist primär, der Rest des kindlichen Narzissmus, ein anderer Teil stammt aus der durch Erfahrung bestätigten Allmacht (der Erfüllung des Ich-Ideals), ein dritter aus der Befriedigung der Objektlibido.“
Freud hat auch die heute unter dem Sammelbegriff der „Selbstobjektbeziehung“ beschriebenen Erscheinungen bereits beobachtet und eingeordnet. Um den Abstand zwischen Ich und Ich-Ideal auszugleichen, wählt sich der Neurotiker ein Sexualideal nach dem narzisstischen Typus, „welches die von ihm nicht zu erreichenden Vorzüge besitzt. Dies ist die Heilung durch Liebe, welche er in der Regel der analytischen vorzieht. Ja, er kann an einen anderen Mechanismus der Heilung nicht glauben, bringt meist die Erwartung desselben in die Kur mit und richtet sie auf die Person des ihn behandelnden Arztes. Diesem Heilungsplan steht natürlich die Liebesunfähigkeit des Kranken infolge seiner ausgedehnten Verdrängungen im Weg. Hat man dieser durch die Behandlung bis zu einem gewissen Grade abgeholfen, so erlebt man häufig den unbeabsichtigten Erfolg, dass der Kranke sich nun der weiteren Behandlung entzieht, um eine Liebeswahl zu treffen und die weitere Herstellung dem Zusammenleben mit der geliebten Person zu überlassen. Man könnte mit diesem Ausgang zufrieden sein, wenn er nicht alle Gefahren der drückenden Abhängigkeit von diesem Nothelfer mit sich brächte.“
Die moderne Narzissmusforschung zentriert sich um den Begriff der Frühstörung. Sie hat die Biologie des Menschen weitergedacht und traumatische Bedingungen der Kindheit differenziert. Kinder  sind darauf angewiesen, dass sich mindestens eine erwachsene Person in ihre Bedürfnisse einfühlt und diese befriedigt. Nur dann können sie später ihr Triebleben ohne heftige Ängste und ein unerfüllbares Streben nach Vollkommenheit entwickeln.
Nur ein Kind, das sich in seinen Triebäusserungen einfühlend beschützt weiss, kann sich im Heranwachsen diesen Äusserungen naiv hingeben. In allen anderen Fällen wird es durch sie verängstigt, irritiert, gequält, unter Umständen in einem Ausmass, das zu ständiger Unruhe und schliesslich zum Selbstmord veranlasst. Es entsteht genau jene Grundstimmung, die wir aus Heinrich von Kleists Abschiedsbrief an seine Schwester kennen – die eines Menschen, dem in der irdischen Realität nicht zu helfen ist, weil ihn diese Realität stets zu Wünschen veranlasst, deren Erfüllung er sich selbst in den Weg stellen muss.

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