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Kleists Narzissmus

Unterstützt wurde diese verfrühte Autonomie durch die rasch folgenden Geburten der jüngeren Geschwister, welche die Mutter sicher belastet haben, ebenso wie der frühe Tod des Vaters. Wenn sich ein Kind genügend gut mit der sorgenden Mutter identifizieren kann, wird es beispielsweise auch Rivalitäten mildern und emotionale Beziehungen stabilisieren können.
Der bei der Geburt seines ältesten Sohnes bereits fast 50 Jahre alte Vater stand sicher nur sehr wenig als Erzieher und Vorbild zur Verfügung. Er starb, als Kleist zehn Jahre alt war; fünf Jahre später verlor dieser auch die Mutter. Später hat er zu seiner älteren Halbschwester Ulrike die engste Beziehung. An sie richtet er auch seinen  Abschiedsbrief, eines der ergreifendsten Dokumente aus seinem Leben.
Biographische Belastungen im Sinn einer Frühstörung können wir also nur konstruieren. Aber wird verstehen Kleists Leben sehr viel besser, wenn wir eine solche Störung seiner Fähigkeiten annehmen, ambivalente Gefühle nicht zu spalten, sondern zu integrieren; manische Idealisierungen nicht zu mässigen, sondern in depressive Entwertungen zu kippen. Kleist war ganz offensichtlich darauf angewiesen, Ängste vor dem Zusammenbruch seines Selbstgefühls durch manische Überaktivität zu kompensieren. Wie von der Furie getrieben – so beschreibt er sich selbst in einem Brief an Henriette von Schlieben vom 29.Juli 1804
Er konnte nie Ruhe geben; er brauchte die Idealisierung immer neuer Selbstbilder, um sich vor dem Zusammenbruch seines Selbstgefühls zu schützen. Stillstand, langsame Arbeit, ökonomischer Umgang mit Geld und Seelenkräften deprimierten ihn, weckten die Sehnsucht nach Aufbruch und – als die Aufbrüche sich erschöpft hatten – den Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, um endlich Ruhe zu finden. Gleichzeitig konnte er sich immer wieder über die Schulter schauen und mit verblüffender Hellsichtigkeit erkennen, was er da mit sich und anderen in Szene setzte.
Kleist versagte in seinen Lebensprojekten regelmässig dann, wenn es darum gegangen wäre, Disziplin und Realitätssinn zu entwickeln. Nur in der Literatur konnte er diese Schwelle überspringen, obwohl er es in depressiven Stimmungen abstritt. Meine Vorstellung von meiner Fähigkeit ist nur noch der Schatten von jener ehemaligen in Dresden. Die Wahrheit ist, dass ich das, was ich mir vorstelle, schön finde, nicht das, was ich leiste. Wär ich zu etwas anderem brauchbar, ich würde es von Herzen gerne ergreifen: ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann.

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