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Innenansichten zum Amoklauf

Der Lehrer ging ein hohes Risiko ein; wenn der Täter seine Rollentrance nicht aufgegeben hätte, wäre er nicht mit dem Leben davon gekommen; wenn er in dem abgeschlossenen Raum in seine Rolle zurückgefunden hätte, wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, die Tür aufzuschiessen und seinen Mordweg fortzusetzen. Der häufig zitierte Spruch, auch Robert Steinhäuser sei von „auffälliger Unauffälligkeit“ gewesen, ist angesichts von Amokläufern ebenso beliebt wie falsch. Diese Täter sind in sich widersprüchlich. Sie haben verschiedene Gesichter und können unterschiedliche Rollen einnehmen, die aber nur einen Beobachter überzeugen, der sich überzeugen lassen will. Vor allem sind sie ein tragischer Beweis für die Gültigkeit der psychoanalytischen Grundannahmen. Das menschliche Ich ist schwach und stets in Gefahr, von unbewussten Motiven überwältigt zu werden. Der Zeitgeist hat die Psychoanalyse vergessen, wenn er solche Taten „unverständlich“ nennt. Hier arbeiten ein Täter, der gerne „ganz normal“ wäre, und eine desinteressierte soziale Umwelt zusammen, die ihn trotz eindrucksvoller Gegenbeweise für ganz normal halten möchte. Den Massenmedien fällt die Schuldzuschreibung unendlich viel leichter als die Ursachenforschung. Sie suchen nach plakativen Tätern und Opfern; die Realität, in der es meist um tragische Verstrickungen und scheiternde Kommunikation geht, ist ihnen zu kompliziert. Eine Eltern-Kind-Beziehung kann gelingen – dann wächst das gegenseitige Interesse, und je weiter das Kind heranreift, desto intensiver kann es sich mit den Eltern über die unterschiedlichen Lebenswelten austauschen. Sie kann scheitern. Dann wissen Kinder und Eltern umso weniger voneinander, je länger sie beisammen sind. Sie verstehen sich nicht und können sich nicht verständigen.

Das beste, was möglich ist, ist es dann, aneinander vorbei zu leben und sich möglichst wenig weh zu tun. Eltern sind genauso auf Kontakt und Entgegenkommen ihrer Kinder angewiesen, wie umgekehrt Kinder auf ihre Eltern. Narzisstisch stabile Eltern können den Kontakt halten, wenn ihre Kinder sie kränken und zurückweisen. Dadurch werden Krisen in der Entwicklung überbrückt und es ist möglich, nach einer solchen Krise den Kontakt wieder aufzunehmen. Belasteten Eltern gelingt das nicht. Sie verlieren den Kontakt und können ihn nicht mehr knüpfen. Ebenso wenig sind belastete Kinder in der Lage, „verlorene“ Eltern neu zu sehen und zurückzuerobern. Der Einfluss der Eltern ist in der Moderne geschwunden; die Anforderungen an sie sind gewachsen. In einer traditionellen Gesellschaft lebt das Kind im Kreis von Familie und Sippe, von Erwachsenen und Altersgenossen. Dieser Kreis bestimmt die äusseren Einflüsse auf die kindliche Entwicklung. In unserer gegenwärtigen Situation ist dieser Kreis in vier Sektoren zerfallen. Nur ein Viertel der Einflüsse auf das Kind verantworten die Eltern. Ein zweites Viertel prägen die peers, d.h. die Gleichaltrigen in von der Familie unabhängigen Räumen, z.B. Spielplatz, Disco, Sportverein. Ein drittes Viertel bestimmen Freizeitindustrie, Medien und Technik – die speziell für Kinder und Jugendliche entwickelten Fahrzeuge, Apparate (wie Computer) und – Waffen. Das vierte Viertel gehört den Institutionen und ihren Vertretern – dem Kindergarten, der Schule, den Lehrern, Sozialpädagogen, Therapeuten, Jugendleitern.

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