Aufsaetze
Schreibe einen Kommentar

Verkehrsunfall im Jemen

Ich wollte alles ungeschehen machen und den Fahrer, der uns – eine mütterliche Schutzschicht wie das Auto auch – bisher so sicher durch diese sprachfremde, wildschöne Welt gebracht hatte, mit einer Wiederherstellung des verlorenen Kokons zu beauftragen. Jetzt war klar, dass diese Schutzschicht zerbrochen war und nicht mehr gekittet werden konnte, ich wusste nicht weiter.
Dann begann ein anderer Gedanke: ich wollte nach hause, dorthin, wo ich selbst die Möglichkeiten aufgebaut habe, über mein Leben zu bestimmen. Inzwischen fuhren wir aber in die falsche Richtung, zurück in den Norden, nach Sa’dah. Bei jeder Bodenwelle schrie U. vor Schmerzen. Sie lag quer auf dem Rücksitz, den Kopf auf R.s Schenkel. „Wo sind wir? Was ist passiert?“ fragte sie wieder und wieder. Jedesmal erklärte es R. geduldig, sie aber wusste es bald nicht mehr.

Rekonstruktionen

Wir vier haben in den nächsten Tagen ständig diskutiert, was geschehen war. Dass Mohammed in einer Linkskurve zu weit nach rechts gekommen war und durch das überstürzte Korrigieren der Toyota von der Strasse schleuderte, darüber waren wir uns einig. Dass seine Unkonzentriertheit mit dem Handy zu tun hatte, war allein meine Beobachtung. Ich sass auf dem Beifahrersitz, ich hatte mich angeschnallt, das Ausstellfenster geöffnet, die Scheibe geschlossen gelassen.
Hinter mir sass R., hinter Mohammed meine Frau G.; zwischen beiden R.s Frau U. Waren wir über die Querachse gerollt oder hatten wir uns überschlagen? Einfach gerollt konnten wir nicht sein, denn als der Landcruiser stand, zeigte seine Schnauze nach Norden, zurück nach Sa’dah. Mit Pillenpackungen und Brillenetuis rekonstruierten wir Überschläge auf einer schiefen Ebene zwischen zwei Flächen: der Strasse und der Wüste unterhalb der Böschung.
Später ärgerte ich mich, dass ich nicht daran gedacht hatte, die Szene zu fotografieren. Ich war als Zwanzigjähriger viel als Reporter unterwegs, habe auf Medizinkongressen fotografiert und geschrieben, ich hatte im ganzen Jemen die Leica griffbereit und hielt die Augen offen. Und jetzt liess ist sie im Rucksack stecken, stand wie ein Trottel herum, konnte sowieso nichts tun, um U. oder Mohammed zu helfen. „Ich habe daran gedacht, ein Foto zu machen. Aber es schien mir pietätlos“, sagte G. später.
Im ersten Aufprall auf die rechte Seite hatte ich wohl den Arm schützend gehoben und war mit dem Ellbogen gegen die Scheibe geschleudert worden. Diese splitterte, daher die Schnittwunden. Der Arm kam dann beim Überschlag auf den Schenkel – die Hose war blutverschmiert. Den Bruch holte ich mir wohl, als ich versuchte, mich vor dem Aufprall aktiv zu schützen; ich trug keinerlei Striemen vom Gurt.
Ich kann mich an keine einzelne Bewegung erinnern. Es war keine Zeit für Überlegungen und Entschlüsse. Die hindsight sagt, es wäre klüger gewesen, sich wie eine stürzende Spinne zu einem Knäuel zusammenzurollen und den Halt dem Gurt zu überlasse. Ich weiss nicht, ob es möglich ist, sich auf solche Ereignisse vorzubereiten. Vielleicht durch eine der asiatischen Kampftechniken, in denen die Kunst des Fallens so lange geübt wird, bis sie zum Instinkt geworden ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert