Aufsaetze
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Verkehrsunfall im Jemen

Nach dieser Sekunde ist alles anders, es ist nichts mehr so, wie es war. Im Augenblick des Unfalls verwandelt sich die Sänfte, in der du durch die Landschaft gleitest, in ein wildes Tier, das dich mit Zähnen und Klauen packt, erbarmungslos schüttelt, kratzt und beisst. Glas splitterte, Blech knirschte, erstickte Stimmen, die ich nicht verstand, ein dröhnender Aufprall, noch einer, Schläge aus dem Dunkel, die ich nicht parieren konnte, weil sie blitzschnell und unvorhersehbar kamen. Kieselsteine in einer Blechbüchse, die den Hang hinabrollt. Wieder und wieder wurde aus unten oben, es musste doch endlich vorbei sein. Dann ein letztes, ächzendes Geräusch, eine letzte Veränderung von unten und oben. Der alte Toyota stand wieder auf vier Rädern unterhalb der felsigen Böschung auf dem nackten Boden der Wüste.
Wenn sich jemand viele Jahre lang mit psychischen Verletzungen beschäftigt hat, immunisiert ihn das keineswegs. Aber vielleicht hilft es ihm, das Erlebte zu ordnen, das Flüchtige festzuhalten und sich zurechtzulegen, wie er das Erlebte verstehen kann.
Das seelische Trauma des Autounfalls scheint mir in jenem Kippen zu stecken, das ich wieder und wieder durchlebe. In diesem Kippen verwandelt sich das Fahrzeug. Vielleicht haben wir gar nicht mehr bemerkt, wie es unser Selbstgefühl grandios aufblähte, dass wir so mühelos dahinglitten, beschützt von Regen, Sonne und Wind. Den Kollaps dieser Aufblähung, das Platzen des Ballons, dass das ganz einfach ist und uns zugehört und gut gehen muss, den bemerken wir jedenfalls jetzt, im Augenblick des Unfalls. Und wir sind verstört.
Die Geschwindigkeit wird aus einem Spender narzisstischer Lust und Überlegenheit über die Langsamen, die sich mühselig mit eigener Kraft bewegen müssen, zum Kontrollverlust, zur Auslieferung. Hochmut kommt vor dem Fall. Das wird in uns geprügelt. Was den Körper trifft, wenn sich ein Automobil mit siebzig Stundenkilometern überschlägt, kann kein menschliches Auge, kein menschlicher Arm parieren.
Bei den Schwerverletzten dominiert der Schmerz, wenn sie wieder zu sich kommen. Bei den Leichtverletzten ist es der seelische Schock, eine merkwürdige Einengung und ein nachträglich lächerlich wirkender Versuch, das Ereignis zu leugnen.
Ich versuchte, auszusteigen. Das war nicht leicht. Die Tür klemmte, und die Schmerzen in meinem rechten Arm behinderten mich. Schliesslich kroch ich durch das Fenster. Da stand ich mit blutiger Hose in der Sonne. Ich lebte noch. Aber ich freute mich nicht darüber. Was sollte nur werden. Wie ging es weiter?
Ich dachte daran, meine blaue Reisetasche zu nehmen und den Fahrer wiederzufinden. Da er nicht neben mir sass, glaubte ich, er sei ausgestiegen und bereits zur Rettung der anderen geeilt. Als ich ihn schliesslich unansprechbar, gelähmt, laut klagend auf der Pritsche eines Polizeiwagens entdeckte, konnte ich eine Weile keinen Gedanken mehr fassen.
Ich stand da, probierte an der Beweglichkeit meines (wie sich später zeigte gebrochenen Handgelenks) herum, tastete nach den Wunden durch die gesplitterte Scheibe am Ellenbogen, auf denen allmählich der Schorf trocknete. Ich hatte entsetzlichen Durst, brauchte aber lange Zeit, um den Entschluss zu fassen, nach einer der Plastikflaschen mit Mineralwasser zu suchen, die im Auto lagen. Ich war zu keinem Gefühl fähig, weder erleichtert, dass wir noch lebten, das G. und R. sich auch berappelten, noch betroffen, dass U. anscheinend schwer verletzt war. Wie war sie nur dorthin zwischen die Felsen gekommen? Warum stand sie nicht auf? Ich empfand diese Gefühls- und Entschlusslosigkeit weniger als Versagen, vielleicht eher als Totstellreflex, der Reaktion eines eingeschüchterten Beutetiers vergleichbar, das der Tiger verschmäht hat, nachdem er es schon in seinen Krallen schüttelte.

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