Aufsaetze
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Verkehrsunfall im Jemen

Wir fuhren auf Staubstrassen, über Klippen und Geröll vom Hochland in die Küstenebene, bergauf, bergab, durch Flussbetten, durch tiefe Löcher und an Abhängen entlang, wo jeder Zentimeter zählte, wenn ein anderer Wagen entgegenkam.
Im Hotel von Machwit hatten die Männer am Empfang beteuert, wir würden den Markt in At Tur nach anderthalb Stunden erreichen. Auf der Karte waren es auch nur sechzig Kilometer. Als wir dann zwei Stunden später durchgeschüttelt ein ausgetrocknetes Bachbett erreichten, war At Tur noch mehr als dreissig Kilometer entfernt. Wir trauerten schon um den schönen Markt, aber zäh und geduldig setzte Mohammed unsere Fahrt fort, fragte nach dem Weg, scheiterte hier an einer verschleierten Hirtin, die sich auf seine Anrede hin in die Büsche flüchtete, versuchte dort, durch skeptisches Nachfragen der allgegenwärtigen Gefahr von Auskünften im Orient zu begegnen: nicht die Wahrheit zu erfahren, sondern die gefällige, die höfliche Lüge, die den Frager zufrieden stimmt und schnell wieder entfernt.
So erreichten wir schliesslich den Rand des jemenitischen Hochlandes und blickten hinab in die Tihama, die Ebene hin zum roten Meer, ein Stück Afrika in Arabien, wo die Menschen schwärzlicher sind als in den Bergen und sich Gehöfte aus runden Hütten, mit Hirsehalmen gedeckt, hinter einen Verhau aus trockenen Dornzweigen ducken. Über viele Serpentinen, mit weissem Staub überpudert, ging es hinab, und obwohl Mohammed gesagt hatte: „Until now not dangerous. Now dangerous road“, hatten wir keine Angst.
Ein Markt in der Tihama ist wie eine Kaktusblüte, die sich plötzlich üppig und bunt zwischen Dürre und Stachel auftut. Am Abend ist sie dann in der Sonne verwelkt; wer sie aber sah, zehrt noch lange von diesem Ausbruch von Schönheit und Fruchtbarkeit. Unter bunten Planen, so niedrig, dass die Besucher sie ständig mit ihren Händen aus dem Gesicht streifen müssen wie tiefhängende Büsche, liegen auf roh gezimmerten, mit Flechtwerk bespannten Bänken alle Tauschobjekte einer kargen Welt, Datteln und Hühner, Papayas und Plastiksandalen, Strohhüte, Tonkrüge, Aluminiumtöpfe, kleine, krumme Bananen, Werkzeug, Säcke mit Zucker und Saatgut. Und vor allem strömen Menschen über Menschen, die sich auch an den Fremden freuen, dutzende Male: Where do you come from? Alemania! Alemania sadik!
Sadik ist „Freund“ im Arabischen. Wer hier oder anderswo den Menschen im Jemen begegnet, verliert schnell alle Erwartungsängste, als Fremder, als Christ, als Feind wahrgenommen zu werden. Er erkennt sie als Projektionen, als Verzerrung, als den emotional verständlichen, aber wirklichkeitsfremden Versuch, eigene Hass- und Ohnmachtsgefühle nach dem 11. September abzuwehren. Er stellt fest, dass die Menschen in diesem tief gläubigen Land keine Fanatiker sind, sondern hilfsbereit, gastlich, aufgeschlossen, froh und erleichtert, wenn der Fremde ihr Lächeln und ihren Gruss erwidert.
Mohammed, ach Mohammed! Als ich im Krankenhaus von Sa’dah von einem philippinischen Röntgenologen erfuhr, dass auf den Felsen, in die der Landcruiser von der bequemen, glatten Strasse stürzte, deine Wirbelsäule zerschmettert wurde und dein Rückenmark durchtrennt, erwachte ich zum erstenmal aus der Apathie und dem kalten Funktionieren meines seelischen Schocks und war den Tränen nahe. Das war nur zwei Tage nach unserer Fahrt in die Tihama, die du am Abend beim Essen im Hotel Ghamdan von Hajjah (grosse Hallen, ein einziger, für uns gedeckter Tisch) unter unseren Komplimenten zur Kleinigkeit erklärtest: Aufregender sei es, den ganzen Tag in einem Flussbett zu fahren, hüfthohes Wasser zu queren, den Luftfilter mit einer Plastiktüte und einem Schlauch in einen Schnorchel umzubauen.

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