Aufsaetze
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Verkehrsunfall im Jemen

German Hospital, Sana’a

Durch das Bullauge erschien die Landschaft in einem gelben Nebel; gegenüber, wo ein Fenster offenstand, sah ich das Grün der Oasen und das Schwarz der Felsen unverschleiert. Mohammed Abdullah wurde von zwei Verwandten begleitet, die den Stöhnenden streichelten und ihn mit Fingerhutmengen Wasser tränkten, die sie aus einer der blauen Flaschen in deren Plastikverschluss gossen. Wir gewannen an Höhe, es wurde kalt. U. lag auf einer Decke vor mir; ich zog und legte den Stoff so, dass sie möglichst gut geschützt war. G. kramte meinen Pullover aus dem Koffer.
Zu anderen Zeiten hätte ein solcher Flug nicht lange genug dauern können. Jetzt dauerte er mir zu lang, ich hielt Ausschau nach Landmarken, Hinweisen auf Sana’a.
Hatten wir den Ort schon überflogen, wo unsere Reise zerbrochen war wie ein Stück Glas? Es war zu Beginn des Gebirgszugs gewesen, der Sa’dah von Amran trennt und in dessen westlichem Teil die berühmte Brücke von Shaharah und die Fluchtburg der Imame liegt.
Zwischen Sa’dah und Sana’a greift die grosse arabische Wüste in den Jemen und trennt die Lehmbauten des Nordens von den Dörfern aus behauenen Steinen um Sana’a. In der Hauptstadt vereinen sich dann beide Techniken. Was für ein Land! Zwischen dem Himmel und dem Staub bauen sie Wälle, Dämme, Talsperren, Zisternen, seit Jahrtausenden, um den spärlichen Regen zu fangen, ihn zu halten, ihn fruchtbar zu machen. Diese Dämme zeichnen Muster in die Gebirge, wo immer zwei Hänge etwas wie einen Schoß für bewässerte Terrassenfelder bilden. Staubwege, grosse Häuser wie Burgen, mit nichts als der Tür im Erdgeschoss, die nach oben immer durchlässiger und offener werden.
Zu oft habe ich inzwischen beobachtet, wie sich der ästhetische Zauber und die menschliche Grausamkeit der traditionellen Bauernkulturen auflösen – vom Niederbayern meiner Kindheitstage bis zur Insel Elba und zur Toscana meiner Studenten- und Aussteigerzeit. Man kann das Alte schön finden, ohne es zu idealisieren, das Neue tadeln, ohne es zu verteufeln; beide haben sie ihre hellen und dunklen Seiten. So wird es auch im Jemen sein, wo die traditionelle Landwirtschaft noch so mächtig ist, wie bei uns im 19. Jahrhundert.
In Taiz hatte ich Menschen mit gelähmten Beinen gesehen, die auf kurzen Krücken, Knie und Gesäss mit Plastiktüten geschützt, durch den Suk rutschten. In Sa’dah grinste mich ein Mann an, der einen anderen führte, dessen Hände mit einer geschmiedeten Eisenfessel verbunden waren, so abgeschliffen, dass sie in der Sonne glänzte. Er sagte „Sura, sura“, das Wort, mit dem Kinder betteln, sie zu fotografieren und ihnen dafür eine Münze zu schenken. Die Zeit, in der Geisteskranke und Krüppel Schauobjekte sind, Monster wie einst im Narrenturm der Stadt Wien, ist hier noch lebendig. Wenn ein Armer ein Kind mit einer Phokomelie hat oder einem Wasserkopf, lässt er es sich von einem Bettler abmieten als Mitleidsheischer.
„Ich dachte, das ist alles gar nicht wirklich, ich träume das nur; ich habe mich nur gewundert, dass man in einem Traum so viele Schmerzen haben kann.“ So U. beim ersten Telefonat aus der Unfallklinik in Frankfurt, einen Tag nach der operativen Stabilisierung des gebrochenen Beckens, neun Tage nach dem Unfall.

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