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Hinter Tugendmasken stecken oft Fanatiker

Gekürzt erschienen in GEO, April 2017

Es gibt kein Rezept gegen den schlechten Gebrauch guter Lehren

Die Botschaft Christi wurde benutzt, um Kreuzzüge zu führen, Ketzer und Hexen zu verbrennen, den Mord an Gynäkologen zu rechtfertigen. Der Koran legitimiert den Massenmord an Unschuldigen, selbst an „ungläubigen“ Muslimen.
Wenn sich heute Populisten und Terroristen geistig aus dem Internet ernähren, weckt das Zweifel an dem frommen Glauben, dass Menschen sich der Demokratie nähern und Verständnis für Gedankenfreiheit entwickeln, wenn sie unzensierten Zugang zu allem Wissen der Welt haben. Dieser Aberglaube tauchte während des Arabischen Frühlings in vielen Berichten auf: Wo die Jugend twittert, haben Diktaturen keine Chance.
Demokratie beruht auf der Haltung, den Andersdenkenden zu respektieren, nicht auf Wissen (und Rhetorik) über Volk, Verfassung und Freiheit. Eine Haltung kann, anders als Wissen oder ein moralisches Urteil, gerade nicht ein für alle Male erworben und gesichert werden. Sie wird in einem Prozess aufgebaut und „erhalten“, der so lange dauert wie das Leben.
Viel spricht dafür, dass sich die Psyche der Extremisten aller Lager gleicht. Sie teilen die Welt in zwei Hälften, eine gute, eine böse, sehen sich selbst als Kämpfer für das Gute und sind überzeugt, dass sie genau wissen, was das Böse ist und was getan werden müsste, um es definitiv aus der Welt zu schaffen. Um dieses simple Weltbild aufrechtzuerhalten, eignen sich Verschwörungskonzepte als Zusatzannahmen.
Sie haben den Vorteil, dass sie gar nicht widerlegt werden können, weil beispielsweise die Tatsache, dass viele Medien mit exakten Details über das Attentat auf das World Trade Center berichtet haben, in den Augen der Verschwörungsgläubigen nur die immense Macht der Geheimdienste beweist.
Unabhängig von Verschwörungsmodellen sind die modernen Medien ein Vehikel, das tatsächlich seine Konsumenten verändert, indem es ihre Fähigkeiten schwächt, Kränkungen zu verarbeiten und sich einer ängstigenden Situation zu stellen. Es gibt jeden Tag viele Stunden lang auf unerschöpflichen Bildschirmen ausdrucksvollere Beziehungen und schönere Menschen, als wir sie im Alltag selbst sind oder vorfinden. Weiter stimuliert die extreme Betonung des dramatischen Ereignisses – des Unfalls, des Verbrechens, der Katastrophe – Ängste bis zu der paradoxen Folge, dass gerade in einer Zeit, die friedlicher und stabiler als alles ist, was Menschen in ihrer Geschichte jemals erlebt haben, die Befürchtungen der Bürger von Jahr zu Jahr wachsen.
Die Helikoptermoral lässt sich als Fanatismus in Tugendmaske verstehen. Sobald es möglich wird, sich kritisch von ihr zu distanzieren, weitet sich der Blick, die vertriebene Empathie rüstet sich zur Heimkehr.

Zu diesem Thema ist aktuell im Murmann Verlag das gleichnamige Buch „Helikoptermoral“ erschienen.

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