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Hinter Tugendmasken stecken oft Fanatiker

Gekürzt erschienen in GEO, April 2017

Mehrere Politiker aus den Reihen der Christdemokraten forderten Grass auf, den Nobelpreis für Literatur zurückzugeben, als ob diese Auszeichnung für politisch korrektes Verhalten verliehen würde. Etliche Moralhelikopter landeten bei der schwedischen Nobelstiftung. Die einfliegenden Journalisten fragten an, ob man Grass nicht den Preis aberkennen oder ihn zur Rückgabe zwingen solle.
In solchen Moralhelikoptern werden in nicht Taten bewertet, nicht Gesinnungen, sondern Symbole, mit denen die moralisch Überfallenen in einer ganz bestimmten Weise umgehen müssten. Tun sie es nicht, wird dies umso unerbittlicher eingeklagt, je weniger Grund der Urteilende zu seiner Überlegenheit hat.
Der Denkfehler, man könnte unangenehme Wahrheiten durch Dekontextualisierung verschleiern, war niemals harmlos. Aber seine Folgen blieben zu den Zeiten der heiligen Inquisition ungefährlicher als angesichts der Umweltbeschädigung und der Klimakatastrophe. Die Verwandlung langsam lösbarer Probleme in Feuerwerkskörper lenkt nicht nur ab, sie verschwendet auch Ressourcen und blockiert die Arbeit an der Realität.
Wenn ein Grieche oder Römer der heidnischen Zeit in Ägypten, auf der Krim oder in Großbritannien landete – an keinem Ort dachte er, er würde einen wahren Gott zu Götzendienern bringen. Er fand in den Tempeln der Eingeborenen die eigenen Götter unter anderen Namen. Seit der Reisende Christ ist oder Muslim, behauptet er, nur der eigene Gott sei wahr, der Gott des Eingeborenen aber ein armseliger Götze, wenn nicht der Teufel selbst.
Das als Helikoptermoral beschriebene Phänomen entspricht einer hektischen Wiederaufnahme der missionarischen Geste in der Eventgesellschaft. Je weniger die Allgemeingültigkeit eines Wertes gesichert ist, desto lauter wird er wiederholt und unterstrichen. Die Moral reguliert nicht mehr das Urteil über die Ereignisse, sondern die Ereignisse prägen die Äußerungen der Moral.
Wer Angst hat, wünscht sich tausendmal mehr als Einsicht in die Hintergründe seiner Angst eine schnelle Lösung. Diese Lösung lässt sich nach dem Diktat der Angst in zwei Richtungen finden. Die eine ist der Angriff auf das Bedrohliche und seine Symbole; die andere ist die Flucht an einen sicheren Ort. Nach einem uralten Erlebnismodell ist der Mitmensch, der sich mit mir über die Bedrohung einig ist, ein solcher sicherer Ort. Solange ich in den Schwarm der gleich mir über die Zukunft Besorgten hineinfliehen kann, fühle ich mich sicher vor der Bedrohung und glaube das mir Mögliche zu tun, sie zu bekämpfen.

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