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Notizen zum letzten Drittel

Im letzten Drittel ist es ein stetes Ärgernis, wie die eigenen Kräfte gefährlich werden: ich kann die Last zwar noch heben, aber ich zahle mit Rückenschmerzen. Ich wandere am ersten Urlaubstag stundenlang – und erwache am nächsten Morgen mit einem blau angelaufenen Zeh. Ich bin stolz, dass ich den steilen Anstieg geschafft habe, aber bei jedem Schritt abwärts zwickt das Knie.

Für unseren persönlichen Narzissmus ist es eine chronische Kränkung, dass unser Körper nicht so bleibt, wie wir ihn mit achtzehn Jahren übernommen haben. Damals erwachte die Selbstreflexion, wir entdeckten unseren Körper als Teil unserer Identität. Alles, was wir im Spiegel sahen, wurde unser Eigentum, niemand durfte es uns rauben. Widerwillig erkennen wir das gealterte Selbst –dieser Zausel, der mich da in den Schaufenstern begleitet, soll ich sein?

Von diesem störrischen Glauben an die Unzerstörbarkeit der Jugend leben ganze Industriezweige. Der ästhetische Effekt ist meist zweifelhaft, die Bedeutung für das Selbstgefühl immens. Eine Siebzigjährige, die sich wegen einer Allergie nicht mehr schminken konnte, wurde depressiv. Sie entdeckte erst jetzt die Macht ihrer Überzeugung, durch ihr make up sei sie unzerstörbar, widerstehe jeder Veränderung. Sie hatte sich für sich selbst wieder jung gemalt und konnte ihrer Familie nicht glauben, die behauptete, ungeschminkt sehe sie gerade so gut aus.

Einst wurde Alter mit Weisheit verknüpft. Heute ist es eher ein Kampfgebiet, in dem manische Abwehr („forever young“, „golden age“ ) und depressive Resignation miteinander fechten. Vermutlich war aber die Altersweisheit schon immer ein Mythos. Nicht die Alten wurden weise, sondern nur die Weisen wurden in gefährlicheren Zeiten alt. In der Konsumgesellschaft werden die meisten Menschen alt, kluge wie törichte; entsprechend ist der Respekt vor dem Alter geschwunden und der Umsatz der „Schönheits“Industrie gestiegen.

Wie in vielen anderen Bereichen ist auch in der Auseinandersetzung mit dem Alter der Druck unserer medialen Bilderwelt schwer zu ertragen. Vor dreißig Jahren waren die meisten jungen Frauen mit ihrem Aussehen zufrieden; Anorexie und Bulimie galten als seltene Krankheiten. Heute hat eine Mehrzahl der jungen Menschen Probleme mit ihrem Aussehen und an einem deutschen Gymnasium finden sich mehr Anorektikerinnen als in manchem Land der Dritten Welt.

Wir sehen ständig Bilder, wir leben ständig in Vergleichen. Einer davon ist der Vergleich des alten mit dem jungen Selbst. Unsere Psyche ist darauf nur intellektuell, nicht aber emotional vorbereitet. Nur eine winzige Prozentuale seiner Evolution wusste Homo sapiens, wie alt er ist. Noch viel kürzer ist die Zeit, in der es Spiegel gibt. Bildkonserven als Massenphänomen sind kaum hundert Jahre alt. Am besten fühlen wir uns im letzten Drittel, wenn wir in diese vertraute Zeitlosigkeit zurückwandern und nicht von uns verlangen, wir müssten das Alter „bewältigen“.

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