Vortrag
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Die Zukunft hat viele Illusionen.

Warum sich Freud irrte, als er den Sieg der Analyse über die religiöse Illusion ankündigte

Wer die gegenwärtige Therapieszene betrachtet, muss erkennen, dass sich neben dieser kritischen Distanz zu Illusionen jeglicher Couleur sehr viel Wildwuchs breit gemacht hat. Die therapeutischen Bewegungen sind zahlenmäßig weit stärker als zu Freuds Zeiten, in denen die Teilnehmer psychoanalytischer Kongresse noch auf ein Gruppenbild passten. Heute bringt eine der windigeren Therapieschulen zehnmal mehr ausgebildete Helfer und Heiler auf den Markt, als es in den zwanziger Jahren Psychoanalytiker gab. Parallel zu dieser massenhaften Entfaltung psychotherapeutischer Berufe ist die Illusionskritik verloren gegangen. Wo Freud noch beschreibt, dass keine emotionale Beziehung ohne Ambivalenz ist und jedes therapeutische Bemühen an Grenzen stößt, steigern sich die Versprechungen seiner Epigonen bis zur Neuprogrammierung des Geistes, ja zur Neugeburt des ganzen Adam („rebirthing-therapy“) und zum Durcharbeiten früherer Inkarnationen. In den Kleinanzeigen der Psycho-Zeitschriften wuchern Gurus und esoterische Themen. In das von religiösen Illusionen gereinigte Haus sind Astrologie, Kartenlesekunst und der Glaube an magische Kristalle zurückgekehrt.

Die psychoanalytische Religionskritik trat das Erbe der Aufklärung an. Freud stand zwischen gemäßigten und radikalen Verächtern der Religion. Er grub tiefer und wollte höher hinaus. Wenn die Erziehung nicht mehr missbraucht wird, um Menschen der Religion zu unterwerfen, hat das „psychologische Ideal“, der „Primat der Intelligenz“ eine Chance. Erst wenn das Experiment einer areligiösen Erziehung gescheitert ist, will sich Freud bereit finden, „die Reform aufzugeben und zum früheren, rein deskriptiven Urteil zurückzukehren: der Mensch ist ein Wesen von schwacher Intelligenz, das von seinen Triebwünschen beherrscht wird.“

Sekten, Aberglauben, blinde Idealisierungen einer Person, einer Ware, einer Mode, einer Musikgruppe, Fußballmannschaft oder politischen Überzeugung sind heute Massenerscheinungen, die eher der pessimistischen Sicht Freuds recht zu geben scheinen als seinen Hoffnungen auf ein Erstarken des Intellekts angesichts der Durchtränkung des Alltags mit ohne wissenschaftlichen Fortschritt undenkbarer Technik. Aber anders als von Freud erwartet lässt die Dominanz gefährlich gewordener Prothesen Ausschau halten nach irrationalen, illusionären Nischen, die Wärme und Geborgenheit versprechen.

Die psychologische Dynamik vieler dieser sektiererischen Lebenssinnversprechen hängt mit einem Innovationsbonus zusammen. Der neue Glaube hat noch nicht das Sündenkonto und die Unfähigkeitsbilanz des alten; er hat noch keine kriminellen Bischöfe, keine Hexenverfolgungen, keinen institutionellen Hochmut, keine hierarchische Bequemlichkeit aufzuweisen. Oft reicht es schon, dass der neue Glaube neu ist und wir von seinen Schattenseiten nicht wissen, die wir an unserem Kinderglauben längst durchschauen. Wie viel geheuchelt wird, wie oft die Prediger des rechten Weges weitab von diesem wandeln, das sehen wir vielleicht nie deutlicher als in jenem Alter, dem der Märchendichter auch den Ausruf der Entdeckung zuschreibt: „Der Kaiser ist nackt!“

Kritische Bewegungen gegen eine verknöcherte Tradition sind nicht neu – die Geschichte der Reformationen ist bekanntlich älter als der Protestantismus; bereits ägyptische Hieroglyphen berichten von religiösen Neuerern und dem zähen Widerstand etablierter Priesterkasten. Neu ist die enorme Beschleunigung solcher Prozesse. Wenn ich hier die Szene der Sekten außer Acht lasse, die ich nicht so gut kenne wie die Therapieszene, dann ergibt sich doch ein insgesamt ähnliches Bild. Es gibt hunderte von Therapierichtungen, die alle versprechen, seelisches Leid zu lindern und besser zu sein als die Konkurrenz. Die Möglichkeiten, sein psychisches Wohlergehen zu verbessern, entsprechen längst dem Overkill-Potential der Atomrüstung. Kein Leben reicht aus, um sie sich alle zu Gemüte zu führen. Anders als Medikamente, die doch spezielle Indikationen haben, beanspruchen fast alle Therapieschulen, Ängste, Hemmungen und Depressionen zu lindern. Der Neuerungsglaube ist so groß, dass ein Scherzbold, einmal in der populären Zeitschrift Psychologie heute einen Kurs in nichtverbaler Gesprächstherapie anbot. Er konnte eine ganze Reihe von Anmeldungen diplomierter Akademiker verbuchen.

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