Vortrag
Schreibe einen Kommentar

Die Zukunft hat viele Illusionen.

Warum sich Freud irrte, als er den Sieg der Analyse über die religiöse Illusion ankündigte

In Freuds Schrift erreicht die Trennung zwischen Religion und Vernunft einen Höhepunkt. In unserer vor-aufklärerischen Tradition gab es keine solche Trennung. Es ist eine aus der Distanz der Aufklärung gewonnene Interpretation, dass eine traditionelle Gesellschaft durch religiöse Rituale zusammengehalten wird. In traditionellen Kulturen ist faktisch nur eine religiöse Sicht der Gesellschaft möglich.

Die Neuzeit ist dadurch charakterisierbar, dass nicht mehr der traditionsverbundene Gläubige, sondern der zu neuen Märkten aufbrechende Entdecker die Szene beherrscht. Lange sind diese Entdecker noch gläubig, aber sobald sie ihre Aufmerksamkeit auf die menschliche Gesellschaft richten, müssen sie herausfinden, dass die tradierten religiösen Selbstverständlichkeiten sich gerade nicht von selbst verstehen, sondern erklärt werden können und müssen. Forschungsreisende in Außen- und Innenwelten brechen aus ihren tradierten Zusammenhängen auf, „den Marschallstab im Tornister“, entschlossen, ganz anders zu werden als ihre Väter oder Mütter.

Freud war sich sicher, dass die Religion diese Beweglichkeit nicht nur nicht mehr gestalten kann, sondern sie lähmt. Er vergleicht die Religion mit einem Brauch, den Schädel von Kindern zu deformieren, welcher dann die Messungen der Anthropologen unmöglich macht. Wenn wir den betrüblichen Gegensatz zwischen der strahlenden Intelligenz eines gesunden Kindes und der Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen betrachten, müssen wir – so fordert er – doch erkennen, wie viel Schuld die religiöse Erziehung an solchen Verkümmerungen trägt. Hemmung der sexuellen Entwicklung und verfrühter religiöser Einfluss sind nach Freuds Auffassung die Quellen dieser Denkschwäche. Sie muss entstehen, wenn zentrale Gebiete der Neugier und (Sexual)Forschung durch Indoktrination tabuisiert werden.

Die Psychoanalyse hat betont, dass es einen Unterschied gibt zwischen (lösbarem) neurotischen Elend und (unlösbarem) allgemeinem Leid. Sie bekämpfte die Versuchungen, wohlfeil zu trösten und illusionäre Hoffnung zu spenden. Das Menschenbild der Analyse sollte von den Forderungen der Wissenschaft geprägt sein und diese in die Auseinandersetzung des Menschen mit seinen Ängsten und Nöten, mit Sexualwunsch und Aggressionslust hineintragen. Ziel war eine Persönlichkeit, die so reif ist, dass sie ihre tierischen und kindlichen Seiten nicht verdrängt, sondern erkennt, ihnen nicht mit Verboten, sondern mit Entscheidungen begegnet.

Gegenüber der biblischen Botschaft, dass schon der Gedanke an das Böse verwerflich ist, setzt die Analyse eine ausdrückliche Erlaubnis. Jeder Mensch, nicht nur der Bösewicht, ist unmündig, verführbar, triebbestimmt. Aber jeder kann auch seine Gegenkräfte stärken, kann Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, Einsicht entwickeln, Selbstkritik üben, so dass ihn nicht plötzlich in Projektionen das unterdrückte Feindbild überfällt oder im Symptom ein fauler Kompromiss zwischen Wunsch und Zensur einschränkt. Diese Haltung ist egalitär. Nicht die Erbanlage unterscheidet den Gesunden vom Kranken, sondern der zumindest potentiell lösbare Konflikt. Niemand ist über seine Triebe erhaben, niemand kann sich selbst gänzlich erkennen; jeder aber ist in der Lage, seine Einsicht zu verbessern und so Einschränkungen zu überwinden, die ihm unbewusste Konflikte der Kindheit auferlegen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert