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Mitleid, Beileid, Mehrleid

Die Aggression in diesem Satz ist noch verhüllt, aber sie blitzt doch bereits auf. Diese aggressive Komponente im Mitleid erfasst der jüdische Witz vom Schnorrer, der Rothschild eine Leidensgeschichte erzählt, die diesen zu Tränen rührt. Der Baron klingelt nach seinem Diener; der Bettler hofft auf eine Gabe, doch der Reiche sagt nur: „Schmeisst ihn hinaus, er bricht mir das Herz!“

Im Herbst 1991 buchte eine Familie mit zwei kleinen Kindern einen Urlaub in der Türkei. Während einer Woche dieses Aufenthalts mussten Eltern und Kinder – zwei und ein halbes Jahr alt – mit zehn Schwerbehinderten, die zum Teil auf Rollstühle angewiesen waren, den Speisesaal teilen. „Die meisten (Behinderten) konnten das Essen nicht in normaler Weise zu sich nehmen, es lief ihnen aus dem Mund in umgebundene Lätzchen. Sie wurden gefüttert, unter anderem auch mit einem spritzenähnlichen Instrument. Der Anblick war ekelerregend und beeinträchtigte das Wohlbefinden der Kläger und ihrer Kinder.“

Die beiden letzten Sätze stammen aus dem „Flensburger Urteil“, das dem Kläger – der Familie mit den beiden Kindern – insofern Recht gibt, als der beklagte Reiseveranstalter zehn Prozent der Reisekosten ersetzen muss. In diesem Urteil (das eine Entscheidung des Landgerichts Frankfurt vom 25. Februar l980 ausdrücklich als Präzedenzfall anführt) wird in einer merkwürdigen Einseitigkeit psychologisch argumentiert. Die Richter sehen sich ohne weiteres in der Lage, sich in die „Normalfamilie“ und auch in die beiden kleinen Kinder einzufühlen. Die Behinderten hingegen werden formalistisch behandelt: da sie nicht zahlen müssen, geht sie das Ganze nichts an. Die Verwandlung von Mitleid in (latente) Aggression ist in der Diktion des Gerichtsurteils greifbar. Behinderte verleiden die „unbelastete Erholung“, den „unbeschwerten Genuss“, „beeinträchtigen das Wohlbefinden“ durch „ekelerregenden Anblick“.

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