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Labeflasche und Nabelschnur

Neulich sah ich ein Foto: Eine Klasse von Abiturienten des Jahrgangs 2012, korrekt verteilt an ihren abschreibsicheren Tischen. Und auf jedem Tisch stand eine Flasche Mineralwasser. Manches habe ich über mein eigenes Abitur im Jahr 1960 vergessen, aber eines erinnere ich genau: wir saßen auch an abschreibsicheren Tischen, aber niemand hatte etwas zu trinken auf dem Pult stehen.

Der Kulturwandel ist mir auch in den Selbsterfahrungs- und Therapiegruppen aufgefallen. Ich arbeite seit den siebziger Jahren mit solchen Gruppen. Anfangs Diskussionen, ob in den Gruppen geraucht werden durfte oder nicht. Bei mir wurde nicht geraucht. Dann Diskussionen, ob gestrickt werden durfte oder nicht. Stricken war mir egal, so lange die Nadeln nicht klapperten.

Die Labeflaschen tauchten im neuen Jahrtausend auf. Sie wurden nicht mehr diskutiert. Sie waren einfach da. Vor allem Frauen, aber auch Männer nahmen, kaum saßen sie, eines dieser gerippten Plastikmonster in die Hand und schluckten, als seien sie auf Rast während einer Expedition in der Wüste und nicht in einem klimatisierten Gruppenraum.

Vor 1990 kann ich mich an keine Gruppe erinnern, die in der ersten Sitzung klären wollte, ob Getränke vorrätig seien. Inzwischen sind solche Nachfragen häufig und die meisten Veranstalter scheinen überzeugt, dass gesunde Erwachsene eine Stunde ohne Flüssigkeitszufuhr nicht verkraften können.

2006 sagte ein Mitglied in der ersten Sitzung vorwurfsvoll, es habe von einer anderen Gruppe gehört, in der es Plätzchen und Tee gäbe. In der nächsten Sitzung erklärte eben diese Teilnehmerin, sie habe sich jetzt bei ihrem Lehranalytiker erkundigt und von diesem erfahren, dass ein Leiter korrekt handle, wenn er keine Plätzchen serviere. Es sei ein Fehler, das zu tun, ein Abstinenzverstoß. Seither habe sie Frieden mit dem Leiter geschlossen. Dann öffnete sie ihre mitgebrachte Thermosflasche und labte sich.

Es ist nur ein winziges Detail, aber ich deute es als Zeichen wachsender Ängste. Für den Redner, dem das Lampenfieber den Mund austrocknet, steht schon seit langem ein Glas Wasser auf dem Pult. Und wenn ich den Mikrokosmos der Gruppenselbsterfahrung betrachte, fallen mir noch andere Zeichen auf, dass die Menschen mehr Angst haben. Sie rebellieren selten gegen Autoritäten. Sie beklagen sich, dass diese nicht gut genug für sie sorgen. Wenn ich in den achtziger Jahren einer Gruppe vorschlug, doch einmal ein Intensivwochenende zu organisieren, waren alle Feuer und Flamme. Wenn ich das 2010 versuche, ernte ich Bedenken. Ob das nicht zu intensiv würde?

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