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Raubritter und Piraten

Hätte der Rechtsstaat in der Weimarer Republik ordentlich funktioniert, wäre Deutschland das nationalsozialistische Regime erspart geblieben: Verhaftet und des Hochverrats überführt, wurde Adolf Hitler zu einer rechtswidrig geringen Strafe verurteilt. Dem Gericht gefielen seine nationale Rhetorik und sein Hass gegen die sozialdemokratische Regierung, auch wenn es die Tat selbst nicht ignorieren konnte. So verhängte es weder die Todesstrafe noch das Zuchthaus, wie es im Gesetz stand, sondern eine Art ritterliche Haft, die Hitler nutzte, um sich zu erholen und sein Comeback zu planen.

Es ist richtig, dass die Justiz nicht das große Gut ist, sondern das kleinere Übel. Und dass viele Menschen die Suche nach dem kleineren Übel verachten, weil sie doch auf dem Weg zu den wirklich großen Zielen nur stört. Aber da ist doch einiges zu bedenken. Die deutsche Geschichte ist hier lehrreich genug. Für mich sind die Nürnberger Rassengesetze das entscheidende Kapitel einer deutschen Traumatisierung im 20. Jahrhundert, die bis heute droht, die Zivilgesellschaft zu vergiften.

Sie entstanden aus der Mitte einer demokratisch gewählten Regierung heraus. Niemand hat je behauptet, er habe davon nicht gewusst. Wer sich anmaßt, dem Mitmenschen seine Rechte zu nehmen, nimmt ihm später auch das Leben. Gemordet haben die Nazis vorwiegend im Verborgenen, aber die Rassengesetze waren öffentlich. Sie zu ignorieren und 1936 sogar noch Olympische Spiele in Berlin zu veranstalten, beschämt nicht nur Deutschland.

Im Land von Kant, Lessing und Goethe wurden deutsche Bürger zu Menschen minderen Rechts erklärt. Sie verloren ihren Beamtenstatus, ihre an deutschen Universitäten erworbenen Diplome galten nicht mehr. Wer sie weiterhin führte, wurde bestraft. Es gab keinen öffentlichen Aufschrei, als ein Blutschutzgesetz Verbindungen zwischen Ariern und Nichtariern als Rassenschande unter Strafe stellte. Die Beschäftigung von arischen Dienstmädchen unter 45 Jahren in jüdischen Haushalten wurde verboten.

Diese Scham angesichts der Gesetze vom 15. September 1935 hat auch eine intellektuelle Qualität. Es war schlicht dumm, vom Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre zu sprechen, aber nichts als das Kriterium der Glaubenszugehörigkeit von Großvater oder Großmutter anzubieten, um Blut oder Ehre zu definieren. Ausgeblutete Arier konnten durch jüdische Blutspenden gerettet werden – und umgekehrt. Das wusste jeder Medizinstudent im ersten Semester.

Ehre ist eine willkürliche Kategorie. Die Ethik der deutschen Aufklärung setzte ihr Bemühen darein, sie zu überwinden und den Totschlag aus verletztem Ehrgefühl als Verbrechen zu verfolgen. Es war der Stolz der europäischen Rechtsphilosophie, sich von dem primitiven Ehrbegriff der Duellanten und selbsternannten Rächer zu distanzieren. Alle diese Fortschritte wurden 1935 ignoriert und in ihr Gegenteil verkehrt. Kein Wunder, dass in den Nachkriegsgenerationen das Recht in Deutschland niemals soviel Respekt erwerben konnte, wie er in den angelsächsischen Ländern selbstverständlich ist.

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