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Wenn du mir fremd bist, lieb ich dich

Besonders krass ist der Fall jener Lehrerin aus Kalabrien, die überzeugt war, die Mutter ihres Ehemanns hätte ihr damals einen magischen Trank, einen filtro gegeben – anders sei es schlicht unerklärlich, weshalb sie sich mit diesem Kretin verbunden habe, bei dem sie nur der gemeinsamen Kinder wegen bleibe. Ehe der Arzt Blut eines menschlichen Spenders in den bedrohten Kreislauf eines Kranken überträgt, macht er eine Probe, ob sich die beiden Flüssigkeiten vertragen. Es sind nur sehr wenige Faktoren, welche hier einen allergischen Schock auslösen können, verglichen mit der reichen Vielfalt menschlicher Werte. Ein Arzt weiss genau, wie gefährlich es ist, solche Unterschiede zu missachten. Die Verliebten hingegen gehen gänzlich unbekümmert davon aus, dass sich ihre Wertvorstellungen nicht nur vertragen werden, nein: auch aufs Beste ergänzen und bereichern. Sie sind überzeugt, dass jeder von ihnen durch die Verbindung genau dort gestärkt werden wird, wo er sich bisher schwach und unvollkommen fühlte. Drastisch, aber auch anschaulich könnte man den magischen Kreis des verliebten Paares auch als Magen sehen, der die Aufgabe hat, zu verdauen, was in den Kreis eingeführt wird. Er soll es aus etwas Fremdem in etwas Gemeinsames verwandeln. Wie ein überlasteter Magen in Kolik und Krampf dem Organismus ebensoviel Schmerz bereiten kann, wie ein wohlig gefüllter Entspannung und Kraft, so wird das eingeführte Fremde ein Paar bereichern und nähren oder aber zu Verdauungsbeschwerden, ja heftigsten Schmerzen und Ausscheidungsreaktionen führen. Verdauung bedeutet bekanntlich, dass Stoffe in ihre Bestandteile zerlegt werden. Oft ist es interessant zu beobachten, wie an solchen Verdauungsaufgaben deutlich wird, welche Komponenten des Partners sozusagen spaltbar sind. Jede Tugend wirft einen Schatten. Der Volksmund hat in seinen Schwiegermutterwitzen scharfsinnig erfasst, dass die sprühende Energie der schönen Braut bei der Schwiegermutter wie brutale Machtgier erscheint, die sanfte Bescheidenheit aber als Trägheit und Indolenz. Lassen sich solche Konflikte voraussagen? Man könnte vermuten, dass sie umso eher entstehen, je mehr Fremdes ein Paar zu verarbeiten hat. Sehnsucht führt zu Illusionen Zufällig ist während eines Regentages eine flache Schüssel auf der Terrasse stehen geblieben. Am nächsten Morgen sieht die Hausfrau entzückt, dass die Schale als Vogeltränke angenommen wird, ein niedliches Vögelchen pickt Wasser aus ihr. Als sie die Idylle ihrem Mann zeigen will, ihn ruft und nun noch einmal hinsieht, nimmt sie etwas ganz anderes wahr: das niedliche Vögelchen ist eine hässliche Krähe, die weit hinter der Schale im Rasen nach Würmern sucht. 3 Diese Szene beleuchtet die Dynamik unseres Erlebens. Wir sehen nicht, was unsere lichtempfindlichen Zellen reizt, sondern wir machen aus diesen Reizen etwas, das unsere Bedürfnisse erfüllt. Wir schaffen Zusammenhänge, stabilisieren unsere Welt. Die Macht des Gehirns über die Augen ist ebenso gross wie die Macht des Stolzes über die Erinnerung, welche bereits Nietzsche beschrieben hat: „Das hast du getan, sagt mein Gedächtnis. Das kannst du nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“ Ähnlich gross ist die Macht der Liebesillusion über den Partner, der Wünsche nach Heimat über das Fremde, und schliesslich im Liebesstreit die Macht der Verdrängung über das einstige Glück. Die wirtschaftliche Komponente in den Migrationen ist ebenso entscheidend wichtig wie in ihrem psychologischen Gehalt trivial. Konflikte ergeben dann aus dem Ineinandergreifen von juristischen und narzisstischen Themen.

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